Proteste, Flucht und Sorgen: So reagieren Russen auf Putins Mobilisierung

Stand: 23.09.2022, 09:57 Uhr

Hunderttausende Russen sollen für den Krieg in der Ukraine mobilisiert werden. Doch nicht alle sind damit einverstanden. Manche gehen auf die Straße, andere flüchten ins Ausland.

Von Christian Wolf/Katja Goebel

Mit der Mobilisierung von Hunderttausenden Reservisten hat Wladimir Putin nicht nur hierzulande viele Menschen aufgeschreckt. Auch in Russland wurden die Nachrichten natürlich aufmerksam verfolgt - schließlich kann es nun russische Männer treffen und sie werden eingezogen.

Zwar ist es angesichts der staatlichen Repressionen schwer, authentische Stimmungsbilder aus der Bevölkerung zu bekommen, wenn allein schon die Verwendung des Wortes "Krieg" zu Problemen führen kann. Doch trotzdem zeigt sich, dass nicht jeder mit Putins Schritt einverstanden ist.

Festnahmen bei Protesten

Festnahme einer Frau in Moskau | Bildquelle: dpa/ Alexander Zemlianichenko

So kam es noch am Mittwochabend in zahlreichen russischen Städten zu Demonstrationen. Vor allem junge Leute gingen auf die Straße - darunter auch Frauen, die um das Leben ihrer Männer, Brüder und Söhne fürchten. Die Staatsmacht griff hart durch und nahm nach Zählungen des Bürgerrechtsportals OVD-Info mehr als 1.300 Menschen fest.

Besonders perfide: Einigen Festgenommenen wurde nach Angaben von Bürgerrechtlern bei der Polizei direkt der Einberufungsbescheid übergeben. Nachdem sie also gegen den Krieg demonstriert haben, könnten sie deswegen am Ende sogar in genau diesen ziehen.

"Nicht nur Leute aus der Opposition"

Niki Proshin | Bildquelle: WDR/ ARD

Der 28 Jahre alte Youtuber Niki Proshin überträgt immer wieder Proteste im Internet. Er stellt nun eine Veränderung fest: "Es sind nicht nur Leute aus der Opposition. Es sind auch Menschen, die Putin oder die regierende Partei unterstützen. Jeder ist von dieser Teilmobilmachung betroffen. Und ganz offensichtlich wollen sie nicht ihr Leben oder das ihrer Familienmitglieder aufs Spiel setzen", sagte Proshin der ARD.

Genau darum geht es einer Frau, die bei den Protesten dabei war: "Ich will nicht, dass sie in den Krieg ziehen", sagte sie weinend mit Blick auf ihre Söhne. "Ich will nicht ihre toten Körper zurückbekommen. Und dort in der Ukraine gibt es auch Kinder von jemandem. Niemand will diesen Krieg."

Ob es sich nur um kurzzeitige Demonstrationen oder den Beginn von größeren Protesten handelt, wird sich in den kommenden Tagen zeigen. Schon in den ersten Wochen nach dem russischen Angriff auf die Ukraine Ende Februar hatte es Proteste gegeben, bei denen 15.000 Menschen festgenommen wurden. Seitdem hat die russische Führung die Strafen für Widerstand gegen den Krieg aber verschärft.

Doch der russische Politologe Abbas Galljamow erwartet, dass die Proteste nun zunehmen könnten, wenn die Einberufungen für jeden greifbare Realität werde - und "diejenigen, die weg sind, in Särgen wieder zurückkehren, wenn die Bestattungen sind". Für die bisher getöteten Vertragssoldaten, die freiwillig für Geld gekämpft hätten, habe sich kaum jemand interessiert. "Aber der Tod von Reservisten, das ist etwas ganz anderes. Das ist eine furchtbare Ungerechtigkeit."

Russen machen sich Sorgen

Trotzdem machen Russen ganz aktuell mehr oder weniger deutlich, dass sie gegen die Mobilisierung sind. So sagte eine Frau dem Moskauer ARD-Team bei einer Straßenumfrage: "Gott sei Dank erleben das meine Eltern nicht mehr. Meine Onkel sind im Krieg gestorben. Manche im Krieg, manche an den Verletzungen durch den Krieg. Was soll ich sagen? Wir wollen Frieden."

Eine andere Frau sagte: "Das ist alles furchtbar. Schon jetzt gibt es in Krankenhäusern Jungs ohne Arme und Beine. Das ist eine furchtbare Situation. Und keiner weiß, was da noch kommt."

Ein 41 Jahre alter Mann erzählte der Deutschen Presse-Agentur in Moskau, dass er gar keine Kampferfahrung oder echte Militärausbildung habe - obwohl er Leutnant der Reserve sei. "Ich werde auf gar keinen Fall in diesem sinnlosen Krieg Putins kämpfen, ich gehe lieber ins Gefängnis", sagte der Ingenieur. Er habe Angst, dass er bei einem Ausreiseversuch festgehalten und direkt in die Ukraine geschickt werde. "Verstecken ist ein Ausweg."

Schlange stehen vor einem Militärkommissariat im Süden Moskaus | Bildquelle: IMAGO/Mikhail Metzel

Tatsächlich erhielten manche Russen den roten Zettel mit der Aufforderung, sich im Wehrkreiskommando einzufinden, schon am Mittwoch - kurz nachdem Putin die Mobilmachung im Fernsehen angekündigt hatte. Aus vielen Teilen des Landes gibt es schon Berichte darüber, dass Menschen massenhaft eingezogen wurden - und teils aus dem Bett geholt wurden. Auf Videos ist zu sehen, wie Männer in Busse einsteigen und Angehörige sich weinend von ihnen verabschieden.

Sohn von Putins Sprecher will sich drücken

Natürlich gibt es auch diejenigen, die mit Putins Entscheidung einverstanden sind. Zudem dürften sich auch Männer freiwillig melden, da es für den Militäreinsatz vergleichsweise gutes Geld gibt. Und dann gibt es noch diejenigen, für die die Regeln offenbar nicht gelten. Dazu zählt der Sohn von Kremlsprecher Dmitri Peskow. In einem fingierten Telefonat, in dem sich Mitarbeiter des Oppositionellen Alexej Nawalny als Mitarbeiter eines Wehrkreiskommandos ausgegeben haben, machte der 32-Jährige deutlich, dass die Mobilisierung nicht für ihn gelte. "Wenn Sie wissen, dass ich Herr Peskow bin, dann sollten Sie verstehen, dass das nicht ganz korrekt ist, dass ich mich dort einfinde. Kurz, ich werde das auf einer anderen Ebene regeln", sagte er laut einem Telefonmitschnitt.

Andere Russen ohne prominenten Vater wollen einer möglichen Einberufung offenbar zuvorkommen und das Land verlassen. So haben sich an der Grenze zu Georgien bereits lange Autoschlangen gebildet. Der finnische Grenzschutz berichtet über vermehrte Einreisen von Russen. Aber: Für die Fahrt über die Grenze braucht es ein Visum.

Erste Russen kommen in der Türkei an

Russe flieht nach "Teilmobilisierung" in die Türkei | Bildquelle: WDR/ ARD

Wer es sich leisten kann, nimmt das Flugzeug. Schon am Mittwoch wurde ein Run auf Flüge ins Ausland registriert. Das ARD-Team in Istanbul beobachtete am Donnerstag unter den Ankommenden aus Russland viele Männer im wehrfähigen Alter. Ein junger Mann gab offen zu, dass er wegen der Mobilisierung spontan geflogen sei. "Als ich gestern aufgewacht bin und das neue Gesetz gesehen habe, haben wir entschieden, dass ich Russland verlasse. Für wie lange weiß ich noch nicht."

Ein anderer Reisender kam aus St. Petersburg und sagte anonym, dass er nun ein paar Wochen in der Türkei bleiben und dann nach Finnland weiterfliegen wolle, um von dort aus für seine Firma zu arbeiten. "Ich will nicht in diesem sinnlosen Krieg sterben. Das bringt nichts", sagte er.

Doch der russische Oppositionelle Lew Schlossberg glaubt trotz allem nicht an eine Massenflucht: "Es wird nur ein sehr kleiner Teil der russischen Bevölkerung sein, der die Mittel hat, das Land zu verlassen. Die überwiegende Mehrheit der Menschen wird hier bleiben. Und es sind diese Menschen, die die größten Gefühle, die größten Emotionen und Prüfungen durchmachen müssen."

Was denkt die russische Community in NRW?

Viele Russen, die hier leben, halten sich mit öffentlichen Aussagen lieber zurück. Teils, damit ihr Verständnis für Putin nicht bekannt wird, teils, damit ihre Meinung über Putin in Russland nicht öffentlich wird. Es ist nicht also einfach, mit Betroffenen ins Gespräch zu kommen. Der Kölner Streetworker Roman Friedrich blickt mit Sorge auf Russland. "Ich bin traurig, dass es so weit gekommen ist", erzählt der Mann mit russischen Wurzeln dem WDR. Er sieht sich als Mittler zwischen Ukrainern und Russen. "Es gibt Kriegsbefürworter und Kriegsgegner, Putin-Versteher und Putin-Hasser". Er sorgt sich sehr vor weiterer Eskalation und wünscht sich Friedensgespräche.