Als die Flut kam: Chronologie der Hochwasserkatastrophe

Stand: 09.07.2022, 06:00 Uhr

Im Juli 2021 kommt es zur Hochwasserkatastrophe: Wassermassen verwüsten innerhalb von zwei Tagen ganze Dörfer in einem Landstrich von NRW bis Rheinland-Pfalz. Eine Chronologie der Schreckenstage.

Von Katja Goebel


Bäche werden zu reißenden Strömen, innerhalb von Minuten versinken Häuser und Straßen in den Fluten. 184 Menschen sterben, davon fast 50 in Nordrhein-Westfalen. Viele verlieren ihr Hab und Gut, Bahngleise und Autobahnen werden schwer beschädigt und über Monate unbenutzbar. Allein in NRW entstehen Schäden von mehr als 13 Milliarden Euro - verteilt auf zahlreiche Orte. Was wann wo geschah - ein Überblick.

Dienstag, 13. Juli: Katastrophe mit Ansage

Den ganzen Tag regnet es in Strömen. Der Deutsche Wetterdienst sagt bedrohliche Pegelstände der Flüsse voraus und meldet das an Kreisverwaltungen und Feuerwehren. Für die Region im Norden von Rheinland-Pfalz an der Grenze zu NRW solle es bald schon 100 Liter - in der Spitze sogar 200 Liter - auf den Quadratmeter regnen.

Hagen: Am späten Abend, gegen 23 Uhr, zieht eine Starkregenfront vom sauerländischen Altena heran. Doppelt so viel Regen wie sonst in einem ganzen Monat lassen kleine Flüsse wie Volme und Lenne über die Ufer treten. Straßen füllen sich mit Wasser, Bäume stürzen um und Hänge rutschen ab. Für die nächsten 20 Stunden hört es nicht auf zu regnen.

Mittwoch, 14. Juli 2021: Das Wasser kommt

Die riesigen Regenmengen lassen vor allem kleinere Flüsse in kürzester Zeit zu reißenden Strömen anschwellen. Wenn sich das Wasser dann noch durch schmale Flussbetten winden muss, erhöht das die Zerstörungskraft. Es reißt alles mit, was im Weg steht. Bäume, Autos, ganze Häuser.

Mettmann: Eine Frau wird in der Nacht unter einem umstürzenden Baum begraben. Sie droht zu ertrinken, weil ihr Gesicht unter Wasser liegt. Die Düssel ist hier über die Ufer getreten. Helfer halten ihren Kopf über Wasser, bis die Feuerwehr sie befreien kann.

Hagen: In Hagen kommt um 2 Uhr der Krisenstab zusammen. Die Ausnahmesitiution ist mit den Kräften vor Ort nicht zu stemmen. Hunderte von Notrufen gehen ein.

Städteregion Aachen: Die Dreilägerbachtalsperre droht überzulaufen. Am frühen Morgen muss ein Campingplatz geräumt werden.

Dortmund: Der Regen hat ganze Straßenzüge unter Wasser gesetzt. Mehrere Autos stecken fest.

Bedburg: Eine Überflutung der Innenstadt droht. Das Technische Hilfswerk pumpt Tausende Liter Wasser aus Gebäuden nahe der Erft.

Von Schutt begraben: Auto in Hagen | Bildquelle: WDR/Anastasia Mehrens

Hagen, tagsüber: Geröll liegt jetzt meterhoch zwischen Häusern, Autos sind unter Schlamm begraben. Die Polizei appelliert an die Bürger, zu Hause zu bleiben.

Altena: Regenfälle haben Erdrutsche ausgelöst.

Lasbeck bei Iserlohn: 36 Wohnungen werden geräumt, weil ein Damm gebrochen ist.

Würselen: Das Dach eines Einkaufszentrums stürzt unter dem Druck der Regenmassen ein.

Hagen: Die Bundeswehr ist bereits mit Räumpanzern unterwegs.

Ahrweiler (RLP): Die Kreisverwaltung warnt am frühen Nachmittag die Bevölkerung per App, dass mit örtlichen Überschwemmungen zu rechnen sei. Nur eine Stunde später schlägt das Landesumweltamt Alarm und prognostiziert einen Pegelstand von 5,19 Metern.

Altena: Ein Feuerwehrmann kommt im Einsatz ums Leben. Als er einem anderen Mann aus dem Wasser helfen will, werden ihm selbst die Beine weggerissen. Er ertrinkt.

Hagen: Am Nachmittag wird der Katastrophenfall ausgerufen. Laut Krisenstab wird für die kommenden Stunden mit einem Hochwasser gerechnet, das nur alle 25 Jahre auftritt.

Bad Neuenahr (RLP): Der Krisenstab tritt am späten Nachmittag erstmals zusammen. Katastrophenalarm wird aber nicht ausgerufen.

Köln: Einzelne Stadtteile stehen unter Wasser, die Feuerwehr ist im Dauereinsatz, um Keller auszupumpen. Dabei werden die Rettungskräfte später einen Toten finden.

Geflutet: Straßen im Ortsteil Heimerzheim in der Gemeinde Swisttal | Bildquelle: WDR/Marius Becker

Swisttal: Verschiedene Ortsteile stehen am Abend unter Wasser. Die Feuerwehr ruft Bewohner auf, sich in die oberen Stockwerke zurückzuziehen. 

Eschweiler: In Eschweiler nimmt das St. Antonius-Hospital keine Patienten mehr an. Die Stromversorgung ist durch die Wassermassen bedroht. 

Wasser und Schutt: Die Altstadt von Bad Münstereifel | Bildquelle: WDR

Bad Münstereifel: Die Erft ist über die Ufer getreten und stürzt durch die historische Altstadt. Häuser werden zerstört, Autos versinken in den Fluten.

Kreis Euskirchen: Am Abend ist die Steinbachtalsperre übergelaufen - mit 120.000 Litern pro Sekunde. Mehrere Tausend Einwohner sind in Gefahr. Die Feuerwehr beginnt mit der Räumung, denn der Damm droht zu brechen.

Bad Neuenahr (RLP): Im Krisenzentrum des Kreises Ahrweiler ist um 19 Uhr von einer so verheerenden Flut noch nichts zu spüren - die Alarmmeldungen aus den westlich gelegenen Nachbargemeinden Schuld und Altenahr kommen nicht an - der Digitalfunk ist ausgefallen.

Altenahr (RLP): Am Abend um 20.45 Uhr zeigt der Pegel der Ahr 5,75 Meter. Es wird die letzte Pegelstandanzeige sein - denn wenig später wird der Pegel von den Fluten mitgerissen.

Schuld (RLP): Der Pegel an der Ahr steigt weiter. Ganze Häuser treiben im Wasser. Der Ort versinkt in den Fluten.

Oberbergischer Kreis: Die Bevertalsperre in Hückeswagen kann in der Nacht die Wassermassen nicht mehr aufnehmen. Evakuierungen laufen an.

Donnerstag, 15. Juli: Menschen retten, Tote bergen, Schutt räumen

Das schnell einströmende Wasser in die Häuser ist lebensgefährlich - nicht nur, weil Stromschläge drohen. Keller werden zu tödlichen Fallen. Außerdem verlieren Tausende in NRW und Rheinland-Pfalz ihr Zuhause.

Bad Neuenahr (RLP): Kurz Mitternacht erreicht die Flutwelle die Stadt. Der Krisenstab sitzt zu der Zeit in einem Kellerraum ohne stabiles Handynetz. Über eine Warn-App ruft der Kreis nur zu Teil-Evakuierungen auf. Die Bevölkerung trifft es also zum Teil unvorbereitet.

Schuld (RLP): In der Nacht sind wegen Überflutungen sechs Häuser eingestürzt. Etwa 30 Menschen werden vermisst.

Sinzig (RLP): Hier hat man das Gebiet rund 50 Meter rechts und links der Ahr evakuiert. Doch in dem 250 Meter entfernten Haus der Lebenshilfe kämpfen die behinderten Bewohner plötzlich auch ums Überleben. Das Wasser steigt. Für zwölf Menschen kommt jede Hilfe zu spät.

Radevormwald: Menschen, die unmittelbar an der Wupper wohnen, haben ihre Wohnungen verlassen und sind in einer Turnhalle untergebracht worden.

Hückeswagen: 1.500 Menschen müssen ihre Wohnungen verlassen. Viele werden mit dem Boot gerettet. 

Erftstadt-Blessem: Weil die A61 unterspült ist, werden Autos auf die B265 umgeleitet. Doch dann erreicht eine Flutwelle die Bundesstraße auf einer Länge von einem Kilometer. Plötzlich steht das Wasser an einer Stelle 14 Meter hoch. Autos und Lastwagen versinken.

Ahrtal: Das Tal ist verwüstet und über Straßen nicht mehr zu erreichen. Mehr als 1.000 Menschen werden vermisst. Überall suchen die Retter jetzt nach Überlebenden.

Dernau (RLP): Menschen, die nachts auf ihren Hausdächern ausgeharrt haben, werden mit einem Rettungshubschrauber auf einem naheliegenden Weinberg abgesetzt.

Steinbachtalsperre bei Bad Münstereifel: Das Technische Hilfswerk pumpt am Vormittag Wasser ab - der Abfluss ist verstopft, und das Wasser kann nicht kontrolliert ablaufen. Ein Tiefbauunternehmer wagt das Risiko und schaufelt den Abfluss mit seinem Bagger frei - unter Lebensgefahr.

Leverkusen: Ein Krankenhaus wird komplett evakuiert, weil die Stromversorgung gestört ist.

Eschweiler: In der Innenstadt ist am Vormittag neben dem Strom- auch die Trinkwasserversorgung ausgefallen.

Essen: Auch viele Tiere sind Opfer der Flut. Nahe der Ruhr wird mit freiwilligen Helfern ein Pferdehof in letzter Sekunde evakuiert. Die Pferde standen schon bis zum Bauch im Wasser.

Erftstadt: Die Lage spitzt sich am Nachmittag dramatisch zu. Der Katastrophenfall wird ausgerufen. Die Feuerwehr evakuiert die Ortsteile Blessem und Bliesheim und bringt die Anwohner in Turnhallen unter. 

Swisttal: Mithilfe eines Hubschraubers müssen Menschen aus dem Ortsteil Heimerzheim gerettet werden.

Rhein-Erft-Kreis: Der Katastrophenfall wird ausgerufen. Die Hochwassergefahr durch die Erft gilt jetzt nicht mehr nur für Erftstadt, sondern auch für Kerpen, Bergheim und Bedburg.

Geilenkirchen: Rettungskräfte bergen aus einem überfluteten Keller zwei tote Hausbewohner.

Rurtalsperre: An der Talsperre in der Eifel haben sich am Abend über 100 Schaulustige versammelt. Sie warten auf das Überlaufen der Wassermassen.

Freitag, 16.Juli: Kiesgrube verschluckt Häuser

Erftstadt-Blessem: In den frühen Morgenstunden wird die Abbruchkante einer nahe gelegenen Kiesgrube unterspült und reißt mehrere Häuser mit sich. Die Häuser waren verlassen. Andere Häuser sind jetzt stark einsturzgefährdet.

Kreis Heinsberg: Weil ein Damm bricht, muss die Ortschaft Ohe evakuiert werden. Auch die Stromversorgung funktioniert nicht mehr.

Erftstadt: Auf der A1 fällt eine Lärmschutzwand um - und in die Fluten der Erft.

Steinbachtalsperre: Gute Nachrichten - am Nachmittag meldet der Kreis Euskirchen, dass eine Drohne keine kritischen Risse an dem Bauwerk entdeckt habe. Die Orte Swisttal und Rheinbach unterhalb der Talsperre bleiben dennoch evakuiert.

Eschweiler: Das Trinkwasser ist verunreinigt.

Samstag, 17.Juli: Steinmeier im Ahrtal und Geburt des Helfer-Shuttles

Während in vielen Orten das große Aufräumen beginnt, reisen auch hochrangige Politiker in die Katastrophengebiete und versprechen finanzielle Hilfen. Die Hilfsbereitschaft der freiwilligen Helfer wächst derweil von Tag zu Tag. Viele machen sich spontan auf in die Flutgebiete, um mit anzupacken. Daraus entsteht am Ende eine gigantische Bewegung - samt Shuttle-Dienst und Verpflegungscamp.

Erftstadt: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier reist nach Erftstadt und dankt den Einsatzkräften für ihre Arbeit. Im Hintergrund ist ein lachender NRW-Ministerpräsident Armin Laschet zu sehen. Das Lachen wird dem Kanzlerkandidaten als unpassend angekreidet, es wird ihn durch den kompletten Wahlkampf verfolgen.

Ahrweiler: Die Polizei sucht in schwer zugänglichen Regionen mit Hubschraubern nach weiteren Opfern.

Steinbachtalsperre: Immer noch droht akute Überflutungsgefahr. Ein Absperrdamm könnte brechen. Mithilfe von zusätzlichen Pumpen können schließlich fast sechs Kubikmeter Wasser pro Sekunde aus der Talsperre abgelassen werden. Am Ende hält sie.

Hagen: Zahlreiche Straßen sind gesperrt. Vor allem Brücken sind einsturzgefährdet. Neben etlichen Rettungskräften packen auch viele Privatleute mit an. Umzugsunternehmer schleppen teilweise gratis Möbel aus Häusern.

Euskirchen: Weil die Versorgung mit Strom und Wasser gestört ist, muss das Gefängnis geräumt werden.

Ertstadt-Blessem: Die Polizei hat den Ortsteil großräumig abgesperrt, weil der Boden offenbar nicht stabil genug ist. 

Bad Neuenahr: Spontan entsteht hier die Idee eines Helfershuttles. Keine 24 Stunden später und nach etlichen Telefonaten kommen die ersten 300 freiwilligen Helfer ins Tal. Es ist der Beginn einer einzigartigen Hilfsaktion, die Monate andauern soll. Tausende kommen fortan in die Flutgebiete, um Häuser aufzuräumen, Straßen vom Schutt zu befreien, Keller trocken zu legen - oder den Menschen vor Ort einfach nur zuzuhören. Ein festes Camp entsteht, es ist Anlaufstelle und Werkzeuglager in einem.

Der WDR berichtete monatelang über die Folgen der Flut, sprach mit Augenzeugen, begleitete Flutopfer, zeigte den Wiederaufbau, verfolgte die große Hilfsbereitschaft und dokumentierte auch die schleppenden Hilfszahlungen.