Delta-Mutante: Mit EM-Fieber und Reiselust in die vierte Welle?

Stand: 11.06.2021, 20:32 Uhr

Niedrige Infektionszahlen, tolles Wetter, Fußball-EM: Nach einem deprimierenden, winterlichen Corona-Frühling liegt sommerliche Freiheit in der Luft. Wird jetzt die Gefahr durch die Delta-Mutante unterschätzt?

Von Andreas Poulakos

Auf den Straßen und Plätzen von Nordrhein-Westfalen ist die Erleichterung deutlich zu spüren: Biergärten und Parks sind voll, ab Freitag ist in vielen Regionen ein Restaurantbesuch auch ohne Test erlaubt, die Urlaubssaison steht bevor - und der Auftakt der Fußball-EM verheißt viele spannende Abende vor Bildschirmen und Leinwänden unter freiem Himmel.

Perfekte Voraussetzungen also für einen sorgenlosen Sommer 2021? Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sieht das anders. Der WHO-Regionaldirektor für Europa, Hans Kluge, warnt die europäischen Staaten eindringlich vor zu starken Lockerungen. Grund: Die zuerst in Indien nachgewiesene Delta-Variante des Coronavirus sei im Begriff, sich auf dem ganzen Kontinent durchzusetzen.

Anteil der Delta-Variante bei 2,5 Prozent

Noch scheint Deutschland von dieser Entwicklung verschont zu bleiben: Der Anteil der Delta-Variante an den untersuchten Proben beträgt laut Robert-Koch-Institut (RKI) hierzulande 2,5 Prozent, wie aus einem aktuellen Bericht hervorgeht.

Das kann sich jedoch schnell ändern, wie gerade in Großbritannien zu sehen ist. Dort sind rund 60 Prozent der Erwachsenen einfach und mehr als 40 Prozent zweifach geimpft. Die Impfquote ist also erheblich höher als in Deutschland mit 47,5 Prozent Erstimpfungen und 24,8 Prozent vollständig Geimpften (dabei handelt es sich überwiegend um Erwachsene).

Trotzdem steigen die Infektionszahlen auf der Insel. Wochenlang hatte die landesweite Inzidenz um die 20 gelegen, jetzt erreicht sie fast 50. Forscher sprechen vom Beginn einer neuen Welle.

Impfstoffe bieten keinen vollständige Schutz

Ein Grund hierfür ist - neben der höheren Ansteckungsgefahr durch die Variante - wohl auch der mangelhafte Impfschutz. Eine aktuelle britische Studie kommt zu dem Ergebnis, dass der Schutz gegen die Delta-Variante nach der Erstimpfung durchschnittlich nur bei knapp 34 anstatt bei rund 51 Prozent beim "Wildtyp" liegt.

Gefahr durch reisende Fans?

Könnte sich die Delta-Variante in diesem Sommer auch bei uns exponentiell ausbreiten? Stellen Fanreisen zur EM ein besonderes Risiko dar? Dagegen spricht, dass es noch nie so schwierig war, zu einem Spiel in ein EU-Nachbarland zu reisen. In den meisten EM-Stadien ist die Zuschauerzahl stark begrenzt, sodass Tickets ohnehin schwer zu bekommen sind.

Englische Fans müssten außerdem nach der Einreise nach Deutschland 14 Tage in Quarantäne, aus der sie sich nicht "freitesten" können. Ungarn, einer der Vorrunden-Gegner der deutschen Nationalmannschaft, lässt zurzeit überhaupt keine Deutschen ins Land. Trotz aller Schwierigkeiten: Die EM wird für mehr Tourismus in Europa sorgen, der trotz aller Vorsichtsmaßnahmen immer Risiken birgt.

SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach sagte in der "Aktuellen Stunde" im WDR, dass man das Infektionsgeschehen mit weniger Reisen hätte besser kontrollieren können. Eine EM an drei oder vier Standorten würde ihm weniger Bauchschmerzen bereiten: "Es hätte weniger Reisen und weniger Aufwand gegeben. Die EM wäre sicherer gewesen."

Aerosolforscher empfiehlt Fußball-Gucken nur Open Air

Und was ist mit dem populären Rudelgucken? Public Viewing mit viel Bier und Fangesängen? Kein großes Problem, meint Aerosolforscher Gerhard Scheuch im WDR. Die Ansteckungsgefahr in der frischen Luft sei nach aktuellem Wissensstand sehr gering. "Public Viewing ist die absolut bessere Alternative zum Fußballgucken vorm eigenen Fernseher mit fünf, sechs Kumpels zu Hause."

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Nach den Erfahrungen des Sommers 2020 könnte eher die Urlaubssaison die Infektionslage verschärfen und die Verbreitung von Mutanten begünstigen. Laut einer Forsa-Umfrage planen 31 Prozent der Deutschen in diesem Sommer eine Urlaubsreise innerhalb Deutschlands, 15 Prozent wollen ins Ausland reisen und 18 Prozent wollen ihren Urlaub sowohl in Deutschland als auch im Ausland verbringen.

Urlaub als Anreiz zum Impfen

Ein Gutes hat das Fernweh doch: Weil Reisen für Geimpfte erheblich leichter ist als für Ungeimpfte, könnte dies noch viele Impfskeptiker umstimmen: Derzeit sind sich noch rund 30 Prozent der Deutschen unsicher, ob sie sich impfen lassen oder lehnen eine Impfung völlig ab. Ob eine hohe Impfquote eine "vierte Welle" im Herbst völlig verhindern kann, ist zwar nicht garantiert. Sie könnte aber mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Überlastung des Gesundheitssystems abwenden.

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