Corona-Ansteckungen: Kamen die Lockerungen zu früh?

Stand: 10.05.2020, 22:27 Uhr

  • Jeder Infizierte steckt mehr als eine Person an
  • Regionale Zahlen sollten beobachtet werden
  • Maßnahmen weiterhin wichtig

Die Reproduktionsrate ist laut Robert-Koch-Institut (RKI) wieder gestiegen. Das Ziel, dass jeder Infizierte rein rechnerisch nur einen anderen Menschen infiziert, wird danach zurzeit nicht erreicht. Was das bedeutet, erklärt Martin Gent aus der WDR-Wissenschaftsredaktion.

Porträtfoto von Martin Gent

Martin Gent

Martin Gent: Wir müssen nicht in Panik verfallen, nur weil die Reproduktionszahl mal an einem Tag auf 1,1 steigt. Dieser R-Wert ist ein Schätzwert und nur ein Baustein, wenn es darum geht zu sehen, ob das Infektionsgeschehen unter Kontrolle ist. Dazu gehören auch die Fallzahlen, die regionale Verteilung der Neuinfektionen und die Situation in den Gesundheitsbehörden. 

Dann ist der Anstieg kein Problem?

Gent: Das wissen wir nicht. Das Tragische ist, dass wir erst mit einer Verzögerung von etwa zwei Wochen sehen, welche Folgen die Lockerungen haben. Wenn wir dann feststellen, dass es nicht funktioniert, ist es fast schon wieder zu spät, um das Geschehen wieder in den Griff zu kriegen. Wir versuchen hier, einen ganz trägen Tanker zu steuern – kennen die Manöver nicht gut, und bis sie wirken, dauert es ewig.

Kann man sagen, dass es gut war, die Beschränkungen einzuführen?

Gent: Wir können feststellen, dass die Maßnahmen sehr erfolgreich waren. Wenn man sich die Deutschlandkarte mit den Neuinfektionen der vorangegangenen sieben Tage ansieht, dann hatte man Ende März große rotgefärbte Flächen. Jetzt hat man mehr helle Fläche und ein paar rote Hotspots, in Coesfeld zum Beispiel oder in Greiz. Man sollte jetzt stärker darauf achten, was in den Regionen passiert.

Sind die Lockerungsmaßnahmen kontraproduktiv?

Gent: Ich glaube, die Situation ist nach wie vor brisant. Wenn der Chef des RKI sagt, dass er niemandem diese Krankheit wünscht, dann heißt das: Damit ist nicht zu spaßen. Wir können nicht wollen, dass die Welle durch die Bevölkerung rauscht. Dann haben vermutlich hunderttausend und mehr Todesfälle.

Und trotzdem gibt es jetzt immer mehr Proteste gegen die Beschränkungen.

Gent: Ja, aber mit einem Virus kann man nicht diskutieren, das richtet sich leider nicht nach wirtschaftlichen Bedürfnissen und Grundrechten. Und wenn die Leute sagen, dass es doch gar nicht so schlimm sei, dann übersehen sie, dass das an den Maßnahmen liegt, die ergriffen wurden. Da gibt es einen schönen Satz von einem Arzt, den ich gefunden habe: 'Wenn du mit Fallschirm sicher gelandet bist, sagst du dann, es wäre wohl auch ohne gegangen?' 

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