PISA-Pleite: Das sagen Nachhilfelehrerinnen
Stand: 06.12.2023, 20:00 Uhr
Die deutschen Schülerinnen und Schüler haben bei der neuesten PISA-Studie so schlecht abgeschnitten wie nie zuvor. Der internationale Leistungsvergleich aus dem Jahr 2022 zeigt vor allem Defizite im Fach Mathe. Charlotte Eiserich und Beate Kelm sind Nachhilfelehrerinnen. Auch sie merken, dass es immer mehr Probleme gibt.
Von Katharina Böhmer
Wer die verwitterte grüne Tür des alten Fachwerkhauses betritt, dem strahlen als erstes 25 Nachhilfelehrer und Nachhilfelehrerinnen aus goldenen Rahmen entgegen. "Schülermeeting Geseke" steht an einer Buchstaben-Girlande darüber. Beate Kelm sitzt mit Schülerin Evelyn (16) an einem Tisch vor dem Fenster. Es ist ein regnerischer Tag, draußen wird es schon fast wieder dunkel.
Nachhilfelehrerin Beate Kelm bereitet Evelyn auf eine Mathe-Klausur vor.
Mathe steht heute auf dem Stundenplan: Ableitungen. Nächste Woche schreibt Evelyn ihre Klausur. Davor will sie noch einmal in Ruhe alles durchgehen. Sie ist gerade erst von der Realschule aufs Gymnasium gewechselt. Die Nachhilfelehrerin kritzelt eine Formel auf den Collegeblock. "Können wir das so ableiten?" Ein fragendes "Nein".
PISA-Ergebnisse überraschen nicht
Beate Kelm fand die Ergebnisse der PISA-Studie "erschreckend". Verwundert ist sie allerdings nicht. Schon seit 1998 gibt sie Nachhilfe, hat die Nachhilfeschule bis vor Kurzem selbst geleitet. "Die Motivation hat nachgelassen", erklärt sie, was ihrer Meinung nach das Problem ist. "Deshalb ist es schön, wenn man so motivierte Schülerinnen wie Evelyn hat", lächelt Kelm und schaut zu der Schülerin, die gerade eine Aufgabe auf ihrem Tablet löst.
Drei Kleingruppen sitzen in dem Raum. Hier setzt man auf Einzelunterricht und individuelle Förderung. "Der Matheunterricht ist relativ langweilig gestaltet, auch wenn unser Lehrer darauf achtet, dass alle mitkommen", sagt Evelyn. Sie wünscht sich mehr Interaktivität, mag etwa Lernvideos oder Lieder, um sich Formeln besser zu merken.
Disziplin fehlt
"Das kannst du hier kürzen", so Kelm. Ihr Kugelschreiber klackert auf der Scheibe des Tablets, als sie Evelyn erklärt, was zu tun ist. "Was willst du noch üben", fragt sie und schaut die 11.-Klässlerin durch ihre goldene Brille an. "Transformationen". Ein Blick in das Mathebuch, die Seiten wellen sich leicht, der Einband hat kleine Kratzer.
"Es macht viel aus, wie viel sich die Eltern bemühen", weiß Kelm. Viele ließen ihren Kindern zu viel durchgehen. Sie wünscht sich etwas mehr Disziplin. "Es fehlt auch an Grundlagen." Beate Kelm schaut konzentriert auf die Rechenaufgabe: "Ist richtig, yeah", sagt sie, ballt die Faust und streckt sie in die Luft.
Pandemie ist nicht Auslöser
Am Nachbartisch sitzt Leiterin Charlotte Eiserich mit einer Schülerin und übt Deutsch. "Man muss versuchen die Inhalte in die Lebenswelt der Schüler zu übertragen." Und so fasst sie ein altes Buch einfach mal mit ihren eigenen Worten zusammen. Auch sie nimmt eine Veränderung wahr: "Die Leistungsbereitschaft nimmt ab, die Schülerinnen und Schüler sind abgelenkter."
Auf die Frage, ob Corona und der in der Pandemie ausgefallene Unterricht Schuld an dem Ergebnis sei, schüttelt Eiserich den Kopf: "Das spielt mit Sicherheit mit rein und ist auch immer das Erste, was ich höre, wenn Eltern ihre Kinder bei mir anmelden, aber meiner Meinung nach ist der Leistungsanspruch gesunken." Sie nehme oft wahr, dass Stoff, der früher schon in tieferen Klassen behandelt wurde jetzt erst viel später drankomme. "Manchmal lasse ich meine Schüler dann bei ihren Lehrern nochmal nachfragen, ob das wirklich nicht Teil der Prüfung ist."
Migrationshintergrund entscheidend
Viele Kinder, die in die Nachhilfeschule kommen, werden durch das Bildungs- und Teilhabepaket gefördert. Davon habe der Großteil einen Migrationshintergrund, so Charlotte Eiserich. Die PISA-Studie bescheinigt große Leistungsunterschiede zwischen Kindern mit und ohne Migrationshintergrund.
Das kann Eiserich nachvollziehen: "Vor allem Kinder, die schlecht Deutsch können, werden ins kalte Wasser geschmissen." Sie wünscht sich individuellere Förderung und die Möglichkeit, in extra Kursen erst einmal Geflüchtete auf den gleichen Stand bringen zu können.
Bildungsgutscheine helfen, Defizite auszugleichen
So hat sie etwa sehr positive Erfahrungen mit Bildungsgutscheinen gemacht. Diese wurden nach dem Lockdown vom Land finanziert, um pandemiebedingte Lernrückstände aufzuholen. Die Lehrkräfte konnten entscheiden, wer Nachhilfe benötigt - unabhängig von sozialer Herkunft oder Einkommen der Eltern.
"Die Bildungsgutscheine haben Nachhilfe normalisiert und den Schülern die Scham genommen." Das Förderprogramm ist aber zum Sommer ausgelaufen. Eiserich wünscht sich eine Neuauflage, damit noch mehr Kinder unabhängig vom Einkommen ihrer Eltern die Möglichkeit haben, das in der Schule Gelernte zu vertiefen.