PISA-Bildungsstudie: Was läuft an deutschen Schulen falsch?
WDR aktuell. 06.12.2023. Verfügbar bis 06.12.2025. WDR. Von Isabelle Engler.
PISA-Studie: Warum Deutschland so schlecht abschneidet
Stand: 06.12.2023, 12:45 Uhr
Die neue PISA-Studie zeigt: Neuntklässler erreichen bei Mathe, Lesen und Naturwissenschaften die niedrigsten Werte, die je in Deutschland gemessen wurden. Woran liegt das?
Von Dominik Reinle und Daniel Schwingenheuer
Die deutschen Schülerinnen und Schüler haben in der internationalen Leistungsstudie PISA im Jahr 2022 so schlecht abgeschnitten wie noch nie zuvor. Sowohl im Lesen als auch in Mathematik und Naturwissenschaften handle es sich um die niedrigsten Werte, die für Deutschland jemals im Rahmen von PISA gemessen wurden.
Auch international sei die durchschnittliche Leistung drastisch gesunken, teilte die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) am Dienstag in Berlin mit.
Ursache: Corona oder Schulsystem?
Es ist das erste PISA-Zeugnis seit der Corona-Pandemie. Doch das sehen die Autoren der Studie zumindest nicht als alleinige Ursache für dieses Ergebnis. Denn auch bereits zuvor seien die Kompetenzen international zurückgegangen. Für Deutschland speziell vermuten Forschende, dass das Problem im Bildungssystem selbst liegt.
Mathematik-Professorin Susanne Prediger
Auch für Susanne Prediger, Mathematik-Professorin an der TU Dortmund, lässt sich nicht alles auf Corona schieben. Deutschland habe nicht nur die Schulen länger geschlossen als andere Länder, sondern auch den Online-Unterricht schlechter organisiert. "Aber das ist es nicht allein - bei weitem nicht", sagte sie am Dienstag im WDR. Die sozialen Unterschiede verstärkten sich immer weiter. Im deutschen Schulsystem würden zum Beispiel die am besten ausgebildeten Lehrkräfte in Schulen mit sozial privilegierten Jugendlichen arbeiten - und nicht dort, wo starke Nachteile ausgeglichen werden müssten.
Doch die strukturellen Probleme gehen noch wesentlich weiter. Armin Himmelrath ist freier Journalist und beobachtet das Thema Bildung seit Jahren für den WDR.
Migration: Herausforderung und Chance
An den Schulen in NRW haben 40 Prozent der Schülerinnen und Schüler eine internationale Biografie. Ahmet Atasoy hat das deutsche Bildungssystem als Schüler mit Migrationshintergrund erlebt. "Da hat sich in den letzten 30 Jahren nicht allzu viel getan", beobachtet er jetzt als Landeskoordinator des Netzwerkes für Lehrkräfte mit Zuwanderungsgeschichte NRW. Er kritisiert, dass in Deutschland der Bildungserfolg vom sozioökonomischen Status der Eltern abhängt.
Atasoy fordert ein Umdenken beim Thema Zuwanderung. Häufig würde ein Migrationshintergrund als "Problem" dargestellt, dabei bringt er viele Ressourcen mit sich, wie zum Beispiel eine Zweisprachigkeit. Das Potential müsse aber auch dementsprechend gefördert werden. Von der Politik fordert er, die Lehrkräfte zu entlasten und ihnen mehr Spielraum zu geben. Außerdem müssen Aus- und Fortbildungen gefördert werden.
Lehrkräftemangel als langfristiges Problem
NRW-Schulministerin Dorothee Feller (CDU) sieht Corona ebenfalls als Verstärker, "aber nicht als Entschuldigung für alles". Deshalb müsse Bildung auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene wirklich Chefsache sein, sagte sie am Dienstag dem WDR. "Wir haben als Land schon Zeichen gesetzt, dass wir im Haushalt ganz klar gesagt haben: Wir werden bei der Bildung nicht sparen." Dieser Weg müsse konsequent weiter gegangen werden.
NRW-Schulministerin Dorothee Feller
Die Personalausstattung an NRW-Schulen, so Ministerin Feller, habe sich in den vergangenen zwölf Monaten um rund 3.900 Stellen auf insgesamt 160.900 Stellen verbessert. Doch der Weg sei noch weit, bis der Lehrkräftemangel der Vergangenheit angehöre. Zum Abbau der Kluft zwischen sozialer Herkunft und Bildungschancen verwies Feller auf die Überarbeitung des Sozialindexes. Das ermögliche ab dem nächsten Frühjahr eine bessere Ausstattung von betroffenen Schulen mit mehr Stellen.
Sondervermögen für die Bildung
Soziologe und Autor Aladin El-Mafaalani
Für den Soziologen Aladin El-Mafaalani gehen alle bisherigen Ideen und Maßnahmen nicht weit genug. Er forscht an der Universität Osnabrück zu den Themen Bildungsgerechtigkeit und Migration. In einem Interview mit dem Stern fordert er ein Sondervermögen für die Bildung von 100 Milliarden Euro. Außerdem plädiert er für Ganztagsschulen, um auch Kinder aus bildungsschwachen Familien umfassend zu fördern. Durch diese Maßnahmen würde der Bildungserfolg weniger auf dem Elternhaus beruhen.
Fördermittel gezielter einsetzen
Die finanziellen Mittel müssen aber auch sinnvoll eingesetzt werden. Neben den fehlenden Lehrkräften und den strukturellen Problemen ist für Bildungsforscher Olaf Köller die Priorisierung der Fördermittel ein weiterer wichtiger Aspekt. Er arbeitet am Kieler Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik und ist Teil des PISA-Teams.
Köller plädiert dafür, die Schulen und auch die Schülerinnen und Schüler zu identifizieren, die besonders hohen Fördermittelbedarf haben. Dort sollen die Fördermittel gezielt eingesetzt werden.
Sprachförderung steht im Zentrum
Als zentraler Ansatzpunkt zur Verbesserung der Bildungssituation sieht die Bildungsforscherin Nele McElvany die Sprachförderung. "Denn wenn die Kinder zu Hause eine andere Sprache sprechen, brauchen sie natürlich eine besondere Förderung im Deutschen - und die möglichst früh und möglichst konsequent", sagte die Professorin von der TU Dortmund dem WDR.
Bildungsforscherin Nele McElvany
Es sei nach wie vor so, dass in Deutschland Kinder mit Migrationshintergrund im Durchschnitt deutlich schwächere Kompetenzen hätten als Kinder ohne Migrationshintergrund. Der internationale Vergleich zeige, dass in anderen Ländern die Unterschiede zwischen den Gruppen zum Teil deutlich geringer seien als in der Bundesrepublik.
Fachkräftemangel wird verstärkt
In den nächsten zehn Jahren werden allein aus Altersgründen 1,5 Millionen Beschäftigte aus Nordrhein-Westfalen aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden. Tanja Nackmayr, stellvertretende Hauptgeschäftsführerin von Unternehmer NRW, weist darauf hin, dass mehr als 280.000 Fachkräfte fehlen: "Wir brauchen an vielen Stellen MINT-Fachkräfte."
Dass die Schülerinnen und Schüler in den Bereichen Mathematik und Naturwissenschaften so schlecht abgeschnitten haben, sieht sie mit großer Sorge. Die Zukunftsthemen Klimaschutz, Bewegung und digitale Transformation seien nur mit Kompetenzen in den MINT-Fächern zu bewältigen. Ihr Vorschlag, um mehr Interesse zu wecken: mehr Praxisbezug. So sollten "echte" Probleme im Unterricht gelöst werden, um die Relevanz der Fächer zu zeigen.
Digitalisierung richtig nutzen
Mathematik-Nachhilfelehrer Daniel Jung
Auch YouTuber Daniel Jung aus Remscheid hat viele Ideen. Seine Videos zu mathematischen Problemen werden millionenfach geklickt. Er fordert, dass auch Lehrerinnen und Lehrer die Chancen der Digitalisierung nutzen können. Plattformen wie YouTube müssten mit einbezogen werden in den Unterricht, um andere Zugänge zur Mathematik zu eröffnen.
Grundsätzlich Kritik an PISA
Bildungsforscher Heiner Barz
Einen ganz anderen Aspekt bringt Professor Heiner Barz von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf in die Diskussion ein. Er äußert grundsätzliche Kritik an der PISA-Studie. Für ihn sind die Erhebungsmethode von PISA, die Datenaufbereitung und die Verdichtung der Ergebnisse auf wenige Schlagzeilen "oftmals hoch problematisch".
Im WDR5-Morgenecho stellte er am Dienstag die Aussagekraft der Ranglisten infrage: "Diese Ranglisten sind von so vielen Faktoren abhängig, die man beeinflussen kann." Deshalb könne man an veränderten Rangpositionen nicht ablesen, ob sich ein Bildungssystem grundlegend verbessert oder verschlechtert habe.
Ob sich durch die PISA-Studie etwas ändern wird bleibt abzuwarten. Bildungsjournalist Armin Himmelrath sieht das Problem, dass die Bildung durch die einzelnen Bundesländer und nicht durch den Bund geregelt wird. "Die Vielstimmigkeit führt dazu, dass es wahnsinnig schwierig ist, den großen Wurf hinzubekommen. Es sind immer nur kleine Schritte."