Hidi Hanst aus dem Seniorenheim Erikaweg in Hilden kann das nicht verstehen: "Ich habe nur noch so kurze Zeit vor mir. Und da dann so eingesperrt zu sein, macht mich nicht froh." Vergangene Woche hat sie ihre zweite Impfung gegen Corona bekommen – so wie rund 95 Prozent der Bewohner und etwa 75 Prozent der Mitarbeiter.
Der größte Wunsch der 86-Jährigen deswegen: Lockerungen. Sie möchte die Reibekuchen zum Mittag auch einmal wieder mit Bewohnern aus anderen Bereichen essen - oder sich danach zum gemeinsamen Singen verabreden.
Trotz Impfung: Viele Fragezeichen bleiben
Doch nicht jeder möchte trotz Impfung direkt zur Normalität übergehen. Gerd Schaaf zum Beispiel: "Ich halte Lockerungen jetzt für falsch. Wir haben nach der ersten Welle gelockert und danach wurde es nur noch schlimmer. Ich möchte nicht wissen, was jetzt passieren würde."
Damit schlägt der 81-Jährige in dieselbe Kerbe wie Beate Linz, stellvertretende Vorsitzende des Verbands der kommunalen Senioren- und Behinderteneinrichtungen in NRW: "Natürlich ist der Impuls da, aber die Diskussion kommt zu früh. Wir haben noch zu viele Unbekannte im Spiel."
Sozialethiker Martin Booms: "Geimpfte müssen Grundrechte leben"
Offene Fragen zur Wirksamkeit der Impfung, Berichte über große Corona-Abbrüche in Pflegeheimen, die Angst vor den neuen Virus-Mutationen, fehlende Impf-Konzepte für neue Heimbewohner – nur vier offene Punkte, die für Linz Lockerungen derzeit unrealistisch machen. Auch die ethische Komponente kommt für sie noch hinzu.
"Wir müssen uns fragen: Ist es gesellschaftlich gut, wenn wir jetzt schon in Altenheimen über die gesellschaftliche Frage diskutieren, ob Geimpfte mehr machen dürfen als andere?", fragt sich Linz.
Ja, sagt Sozialethiker Martin Booms von der Uni Bonn. Er findet: "Geimpfte müssen ihre Grundrechte wieder leben dürfen". Voraussetzung sei aber, dass sie keine Gefahr für andere sind: "Es ist kein Privileg, Freiheitsrechte wieder in Anspruch zu nehmen. Es geht darum, dass man den Normalzustand wieder zurückbekommt."
Der Ethikrat plädierte am Donnerstag dafür, in den Heimen selbst die extremen Kontaktbeschränkungen für Senioren, Behinderte oder chronisch Kranke nach der Impfung aufzuheben. Der Verzicht auf gemeinsame Mahlzeiten und andere Isolationsmaßnahmen, die Depressionen und ein rasches Voranschreiten von Demenz begünstigen könnten, sei hier "nur zu rechtfertigen, solange die in solchen Einrichtungen Lebenden noch nicht geimpft sind".
NRW-Gesundheitsministerium plant keine Lockerungen
Das NRW-Gesundheitsministerium plant bisher nicht, Einschränkungen in Senioren- und Pflegeheimen zu lockern. Denn noch ist nicht klar, ob Geimpfte das Virus tatsächlich nicht weitergeben können. Ohne diese Klarheit wären Lockerungen zu gefährlich.
Hidi Hanst und viele weitere Bewohner von Senioren- und Pflegeheimen müssen deswegen erst einmal weiter auf die Rückkehr der Normalität warten.