Selin Islami sitzt im Rollstuhl. Sie hat einen anerkannten Impfschaden nach einer Corona-Impfung.

Krank nach Corona-Impfung: In NRW erst 66 Impfschäden anerkannt

Stand: 25.06.2023, 06:00 Uhr

Auf die Corona-Impfstoff-Hersteller rollt eine Klagewelle zu. Zugleich sind in NRW noch mehr als 1.000 Anträge auf Anerkennung eines Impfschadens in Bearbeitung. Selin Islamis wurde bewilligt.

Von Jörn Seidel

Selin Islami probiert im Sanitätshaus einen neuen Rollstuhl aus. Er ist viel wendiger als ihr alter, mit Antrieb direkt an den Rädern. Teuer ist er. Aber bezahlen wird ihn der Staat. Denn die 18-Jährige aus Solingen hat einen anerkannten Impfschaden, ausgelöst durch eine Corona-Impfung. Damit ist sie in NRW noch immer eine Ausnahme.

Bislang 66 anerkannte Corona-Impfschäden in NRW

Die Landschaftsverbände Westfalen-Lippe und Rheinland haben als zuständige Versorgungsbehörden bislang 66 Anträge auf Anerkennung eines Corona-Impfschadens bewilligt, teilten sie dem WDR auf Anfrage mit. 254 Anträge sind bislang abgelehnt worden.

Damit liegt die Anerkennungsquote in NRW zwar bei fast 21 Prozent - und damit deutlich höher als im bundesweiten Durchschnitt (laut "Zeit" elf Prozent). Aber: Wie auch anderswo befinden sich in NRW die allermeisten Anträge noch in Bearbeitung - derzeit 1.045.

Jeder Antrag erfordere eine "schwierige, umfangreiche und zeitaufwändige Einzelfallprüfung", erklärt ein Sprecher des Landschaftsverbands Rheinland. Denn es reicht nicht, dass ein Antragsteller oder eine Antragstellerin seit der Corona-Impfung dauerhaft erkrankt ist, also länger als ein halbes Jahr. Die Impfung muss auch die Ursache sein.

Selin Islami und ihre Mutter Aylin Dalgül in einem Sanitätshaus

Selin Islami und ihre Mutter Aylin Dalgül im Sanitätshaus

Im Fall von Selin Islami musste der Landschaftsverband Rheinland abwägen: Die Hälfte der Argumente sprach für einen Impfschaden, die andere Hälfte dagegen. Ihr Impfschaden wurde schließlich anerkannt - sogar zu 100 Prozent. Damit übernimmt die Behörde alle notwendigen Kosten, mehr als die Krankenkasse.

Die größere Unterstützung sei wirklich zu spüren, sagt Islamis Mutter Aylin Dalgül. Trotzdem sei das nur ein schwacher Trost.

"Am meisten wünschen wir uns die alte Selin zurück." Aylin Dalgül, Mutter von Selin Islami

Bis zu ihren Corona-Impfungen vor zwei Jahren war Selin Islami Leistungsturnerin. Sie hatte gerade eine Ausbildung begonnen mit dem Ziel, später Psychotherapeutin zu werden. Doch dann erkrankte sie an Myasthenia Gravis, einer äußerst seltenen Autoimmunerkrankung, bei der die Verbindung zwischen Nerven und Muskeln nicht mehr funktioniert. Seitdem ist das Krankenhaus aus dem Leben der jungen Frau nicht mehr wegzudenken.

"Ich bin froh, dass es mir besser geht und ich zu Hause sein kann." Selin Islami

Zurzeit ist sie stabil und muss nur alle paar Tage ambulant in die Klinik, damit ihr Blut gereinigt wird. "Die Wege hin und zurück sind für mich superanstrengend", sagt sie. Mit den Orthesen an den Füßen kann sie sogar schon wieder ein paar Schritte alleine machen. Aber jede Anstrengung kann bei Selin Islami eine neue Krise, sprich einen Krankheitsschub, hervorrufen. Dann ist sie völlig erschöpft, kann nur noch liegen, kaum noch schlucken - und muss womöglich wieder wochenlang in die Klinik.

Erkrankungen durch Corona-Impfung statistisch selten

Statistisch gesehen ist das Post-Vac-Syndrom, zu dem man alle lang anhaltenden Krankheiten zählt, die mutmaßlich durch eine Corona-Impfung ausgelöst wurden, selten. Auffällige Nebenwirkungen nach einer Corona-Impfung - also nicht die normalen Impfreaktionen wie Fieber und Kopfschmerzen - müssen Ärztinnen und Ärzte den Behörden melden.

Wie das Paul-Ehrlich-Institut als zuständige Bundesbehörde dem WDR mitteilt, beträgt die Melderate von "Verdachtsfällen schwerwiegender Nebenwirkungen" in Deutschland weiterhin 0,29 pro 1.000 Impfungen. Anders gesagt: Nach etwa jeder 3.450. Impfung kommt es zu einem solchen Verdachtsfall.

Corona-Impfungen in Deutschland bis Ende Februar:

  • 192.117.595 Impfungen bzw. verabreichte Dosen
  • 64.873.046 Menschen mit mindestens einer Impfung
  • 54.879 gemeldete Verdachtsfälle schwerwiegender Nebenwirkungen

Es bestand oder besteht bei diesen Fällen also zunächst nur ein Verdacht, dass die Corona-Impfung eine Erkrankung wie Atemnot, Thrombose, Herzmuskelentzündung, Gesichtslähmung oder Schlimmeres hervorgerufen hat. Aber ist die Impfung wirklich immer die Ursache?

Mit dieser Frage müssen sich in den kommenden Monaten auch viele Gerichte beschäftigen. Gegen die zwei Landschaftsverbände in NRW sind nach eigenen Angaben derzeit etwa 20 Klagen anhängig, weil sie Impfschäden nicht anerkannt haben.

Klagewelle gegen Corona-Impfstoff-Hersteller

Hinzu kommt die Klagewelle, die auf Biontech, Moderna, Astrazeneca & Co. zurollt. Allein an den 19 Landgerichten in NRW sind mindestens 50 zivilrechtliche Klagen auf Schadensersatz gegen Corona-Impfstoff-Hersteller anhängig, so das Ergebnis einer WDR-Abfrage.

Die ersten Verhandlungen sollen im August und September stattfinden - in anderen Bundesländern womöglich schon früher.

Kardiologe Schieffer: Menschen mit Post-Vac unterstützen

Dass viele Klagen Erfolg haben, wird von Experten bezweifelt. Umso wichtiger, dass Menschen mit Post-Vac-Syndrom auch anders genug Unterstützung bekommen, meint Kardiologe Bernhard Schieffer von der Uniklinik Gießen und Marburg, ein Spezialist für Erkrankungen nach Corona-Impfungen.

Bernhard Schieffer, Kardiologe

Bernhard Schieffer, Kardiologe

Schließlich hätten sich seine Patientinnen und Patienten auch aus "Loyalität gegenüber vulnerablen Bevölkerungsgruppen impfen lassen" und seien nun teilweise "in ihrer Lebensstruktur völlig aus der Bahn geworfen", sagte er im April dem WDR.

"Wir sollten diese Menschen ernst nehmen", so Schieffer, und sie vor allem medizinisch ausreichend unterstützen, um sie auf ihre "mal angestrebte Lebensplanung zurückzubringen".

Ihr früheres Leben wird Selin Islami nicht mehr führen können. Aber sie ist hoffnungsvoll, dass sie mit ihrem Impfschaden künftig besser leben kann. "Ich wünsch mir Normalität", sagt sie. "Ich möchte die Ausbildung weitermachen, nicht ständig in der Klinik sein - einfach frei sein."

Über dieses Thema berichtete am 02.07.2023 auch die "Aktuelle Stunde" im WDR Fernsehen und die WDR-Doku "Hirschhausen - was von Corona übrig bleibt", die noch bis 12.06.2024 in der ARD-Mediathek läuft.

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