Angstforscher zu Corona: "Leute können das böse C-Wort nicht mehr hören"

Stand: 09.10.2020, 10:36 Uhr

Immer mehr Corona-Infizierte: Die Meldung kann einem Angst machen. Die meisten Menschen reagieren aber ganz anders - Psychiater Borwin Bandelow weiß warum.

4.000 Menschen haben sich innerhalb eines Tages mit dem Coronavirus angesteckt, und es könnten viel mehr werden. Der Chef des Robert-Koch-Instituts hält es sogar für möglich, "dass sich das Virus unkontrolliert verbreitet". Kein Tag ohne neue Schreckensmeldung - wie gehen die Leute damit um? Geraten wirklich viele in Panik? Und wie könnten sie die Angst bekämpfen? Fragen, die Borwin Bandelow, Psychiater an der Universitätsmedizin Göttingen, beantwortet.

WDR: Herr Bandelow, die Zahl der Infizierten steigt seit Wochen kontinuierlich, die aktuellen Statistiken werden ständig veröffentlicht. Was machen solche Meldungen mit den Menschen?

Bandelow: Am Anfang der Corona-Krise haben sie wie in jeder Krise mit Panik reagiert, weil es sich um eine neue und unberechenbare Gefahr handelte, und Hamsterkäufe gemacht. Da schaltet das Vernunftgehirn automatisch auf das Angstgehirn, das die Oberhand gewinnt, wenn man sich in einer akuten Gefahr fühlt. Das ist eher auf der Stufe eines Hühnerhirns, also relativ dumm. Aber es sorgt seit Urzeiten dafür, dass das Überleben gesichert ist.

Wer ist Borwin Bandelow?

Borwin Bandelow, 1951 in Göttingen geboren, ist Experte für Angststörungen und Begründer der Gesellschaft für Angstforschung. Der Facharzt für Neorologie und Psychiatrie und Psychotherapeut hat sich mit einer Arbeit über Panik und Platzangst an der Uni Göttingen habilitiert. Dort ist er heute als Senior Scientist tätig.

Bandelow hat zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten und Ratgeber geschrieben. Außerdem spielt er in der Göttinger-Ärzte-Band "Hot Docs", die alle Gagen für karitative Zwecke spendet. In seiner Jugend hat er sich auf einem ganz anderem Gebiet einen Namen gemacht: Er ist der Erfinder der Ostfriesenwitze, die er als Schüler am Gymasium Westerstede veröffentlichte.

WDR: Das war aber kein Dauerzustand?

Bandelow: Nein. Die Menschen haben sich an die Gefahr herangetastet und sich daran gewöhnt, auch wenn es so aussieht, als käme jetzt die berühmte zweite Welle. Der Mensch gewöhnt sich an viele schlimmere Dinge, in Kabul an die Bombenanschläge oder in Brasilien an die Zustände in den Slums. Das ist ein fast natürlicher Vorgang.

WDR: Also sind sie jetzt ganz entspannt?

Bandelow: Die meisten Menschen bleiben angemessen ängstlich. Sie denken, okay, die Zahlen steigen, dann trage ich halt meine Maske weiter. Einige wenige sind überängstlich und laufen immer mit der Maske los, auch wenn sonst niemand unterwegs ist. Aber es gibt auch eine kleine Gruppe, die eher übermütig ist, vor allem Jüngere, die denken, es ist ja nichts Schlimmes passiert. Die sagen jetzt: Ich habe mich monatelang mit Masken bewaffnet, jetzt will ich mich nicht mehr einschränken lassen.

WDR: Sie lassen sich von steigenden Infektionszahlen nicht beeindrucken?

Bandelow: Bei denen gehen solche Meldungen zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus. Das ist wie bei der Feuerwehr, die nicht mehr kommt, wenn vorher ständig "Feuer!" gerufen wurde. Deswegen glauben sie auch den Politikern nicht, die sagen, dass wir auf eine Pandemie zusteuern.

WDR: Aber wenn jetzt gewarnt wird, dass die Klinikbetten knapp werden könnten: Wäre ein bisschen Panik da nicht gut?

Bandelow: Im Moment sieht es nicht so aus, als würde das passieren. Aber abgesehen davon haben die Leute gemerkt, dass viele Betten leer standen, die man extra freigehalten hat. Deswegen glaube ich nicht, dass sie vernünftig werden, selbst wenn man an die Grenze kommt.

WDR: Warum wird den Medien, auch dem WDR, immer wieder vorgeworfen, sie würden mit solchen Meldungen nur Panik schüren, sie sollten das lassen?

Bandelow: Die Medien sind nicht Schuld. Sie können Neuigkeiten nicht einfach verschweigen. Wenn sie es täten, würde es heißen, dass sie Nachrichten unterdrücken. Aber ich glaube, irgendwann können die Leute das böse C-Wort einfach nicht mehr hören.

WDR: Reagieren manche Leute auch so aggressiv auf die Meldungen, weil sie sich mit dem Virus eingerichtet haben und sie sich in diesem Gefühl gestört fühlen?

Bandelow: Genau. Dazu kommt auch, dass keiner mehr bei den vielen Regelungen durchblickt. Ganz Berlin als Risikogebiet, Beherbergungsverbot ja oder nein: Die Menschen fühlen sich auf den Arm genommen.

WDR: Zum Schluss eine Frage an den Humor-Experten. Sie haben als 16-Jähriger ja auf der Schule die Ostfriesenwitze erfunden. Hilft Humor gegen Corona-Begleiterscheinungen?

Bandelow: Auf jeden Fall. Wenn Menschen sich vor etwas ängstigen, machen sie Witze darüber, das hilft ihnen, über die Angst hinweg zu kommen. Zu Beginn der Pandemie habe ich ständig Corona-Witze auf WhatsApp bekommen, anfangs zehn und mehr am Tag. Jetzt kriege ich kaum noch welche: Die Leute haben gar kein Bedürfnis mehr danach, Corona ist jetzt der Normalzustand.

Das Interview führte Marion Kretz-Mangold.

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