Antisemitismus-Studie NRW
Aktuelle Stunde . 24.09.2024. 36:37 Min.. Verfügbar bis 24.09.2026. WDR. Von Per Quast.
Umfrage: Antisemitismus in NRW weit verbreitet
Stand: 26.09.2024, 10:40 Uhr
Hass auf Juden ist in NRW in breiten Schichten der Bevölkerung anzutreffen. Dies geht aus einer neuen repräsentativen Umfrage hervor. Eine Altersgruppe ist demnach besonders israelfeindlich.
Von Martin Teigeler
In einer repräsentativen Allensbach-Umfrage plädiert fast die Hälfte der Befragten in NRW dafür, einen "Schlussstrich" unter den Holocaust zu ziehen. Das ist ein Ergebnis der Studie "Antisemitismus in der Gesamtgesellschaft von Nordrhein-Westfalen im Jahr 2024", die NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) und die Antisemitismusbeauftragte Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) am Dienstag vorstellten.
Teenager israelfeindlich eingestellt
Der Umfrage zufolge gibt es bei antisemitischen Einstellungen kaum Altersunterschiede - "allerdings sind 16- bis 18-Jährige auffällig israelfeindlich eingestellt". Die Forscher führen als möglichen Grund den hohen Konsum von Hetzvideos auf Tiktok bei unter 20-Jährigen an.
Eine weitere Erkenntnis: Bei allen Indizes außer dem israelbezogenen Antisemitismus haben "Befragte, die sich subjektiv als AfD-Wähler einstufen, im Durchschnitt einen signifikant höheren Antisemitismuswert" als befragte Wähler von CDU, SPD, Grünen und FDP.
Antisemitismus, Migranten und Muslime
Keinen messbar stärkeren Antisemitismus gab es demnach bei Menschen mit Migrationshintergrund: "Menschen mit und ohne Migrationshintergrund unterschieden sich nicht bezüglich antisemitischer Einstellungen." Wer regelmäßig ein Gotteshaus besucht, hat laut Studie aber höhere Werte "beim offen modernen und religiösen Antisemitismus" - und dies "unabhängig von der Konfession".
In der Untersuchung heißt es zudem: „Sowohl beim religiösen und offen modernen als auch beim israelbezogenen Antisemitismus liegen die Antisemitismusmuswerte von Muslim:innen über jenen von evangelischen und katholischen sowie nicht-religiösen Befragten.“
An anderer Stelle heißt es: „Antisemitismuswerte steigen nicht mit Migrationshintergrund. Doch unterstreichen erhöhte Werte des Antisemitismus bei Muslim:innen, die häufig Moscheen besuchen, auch die Notwendigkeit, den Einfluss autokratischer Staaten auf religiöse Verbände, welche selbst staatlichen Antisemitismus verbreiten, zu begrenzen.“
Politiker alarmiert
Leutheusser-Schnarrenberger sprach in Düsseldorf von "zum Teil erschreckenden Erkenntnissen" aus der Studie, die sie bereits 2022 angestoßen hatte. Um die Wirkungen des Hamas-Terrorangriffs vom 7. Oktober 2023 auf Israel auf Einstellungen in der NRW-Bevölkerung abzuwarten, wurde die Umfrage erst im Frühjahr 2024 durchgeführt.
Minister Reul will über Konsequenzen aus der Studie nachdenken: "Das können wir nicht einfach so weiterlaufen lassen." Das Problem des Antisemitismus sei noch größer als bisher angenommen.
Weitere zentrale Ergebnisse der Umfrage:
- Zehn Prozent der Befragten stimmen sogenannten systematisch modern-antisemitischen Aussagen zu, die offen formuliert werden, wie etwa dass „Juden […] zu viel Einfluss auf die öffentliche Meinung in Deutschland“ habe.
- Je nach Fragestellung haben acht bis 24 Prozent der Befragten "tief verankerte antisemitische Überzeugungen".
- Rund ein Viertel der Befragten glaubt auch, dass der Zentralrat der Juden Unfrieden in Deutschland schüre und darum abgeschafft werden sollte.
- Fast die Hälfte (46 Prozent) stimmte verklausulierten Aussagen von einem übermäßigen jüdischen Einfluss in der Welt zu.
- Die Landbevölkerung hat laut Studie "signifikant niedrigere Antisemitismuswerte bei den Indizes moderner offener und israelbezogener Antisemitismus" als die Großstadtbevölkerung.
Dass Hass, Hetze und Gewalt gegen Juden auch in NRW zugenommen haben, ist seit dem Hamas-Terrorangriff auf Israel vom 7. Oktober traurige Realität. NRW-Innenminister Reul und die Landes-Antisemitismus-Beauftragte Leutheusser-Schnarrenberger hatten dazu bereits in den letzten Monaten Statistiken und Berichte vorgelegt.
Forscher für Tiktok-Regulierung
Prof. Dr. Lars Rensmann (l.) und Prof. Dr. Heiko Beyer bei der Vorstellung der Studie in Düsseldorf
Die Wissenschaftler, die die neue Befragung konzipiert und ausgewertet haben, plädierten unter anderem für eine verstärkte Debatte über eine Regulierung von sozialen Medien wie Tiktok. "Das ist keine Meinungsfreiheit, sondern gezielte Indoktrination", sagte der Politologe und Antisemitismusexperte Lars Rensmann. Auf Basis von Desinformation habe eine Demokratie "keine Zukunft".
Der Sozialwissenschaftler Heiko Beyer sprach von einer "beunruhigenden Normalität" antisemitischer Einstellungen in NRW. Die Werte lägen höher als bei früheren Studien und Umfragen. Bemerkenswert sei, dass der Anteil bei "hochgebildeten und politisch linken Befragten sogar wahrscheinlich noch unterschätzt wird, da diese, wie unsere Umfrage-Experimente nahelegen, dazu neigen, ihre Einstellungen nicht offen zuzugeben".
Basis der Studie ist eine repräsentative Umfrage in Nordrhein-Westfalen. Die persönliche Befragung von 1.300 per Quotenverfahren ausgewählten Personen ab 16 Jahren wurde vom Institut für Demoskopie Allensbach im März und April 2024 durchgeführt.
Unsere Quellen:
- Pressekonferenz zur Studie in Düsseldorf
- Nachrichtenagentur dpa
Anm. d. Red.: Wir haben den Onlinetext um Aussagen zum Antisemitismus bei Muslimen aus der schriftlichen Studie ergänzt. Dieser Aspekt hatte beim mündlichen Vortrag der beiden Wissenschaftler in der Pressekonferenz keine zentrale Rolle gespielt.