08.11.2023, Nordrhein-Westfalen, Köln: Hendrik Wüst (M, CDU), Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, nimmt an einem Schweigegang vor dem Gedenktag der Pogromnacht vor 85 Jahren teil.

Antisemitismus in NRW: Nie wieder ist jetzt? Ein Realitätscheck

Stand: 10.11.2023, 16:00 Uhr

Erklärungen gegen Terror, Kampagne gegen Antisemitismus und ein Zehn-Punkte-Plan: Die Landesregierung macht viel, um Solidarität mit Juden zu fördern. Doch wie ist die Resonanz in der Gesellschaft? Eine Analyse.

Von Martin Teigeler

Vom Schweigegang bis zur Gedenkstunde - Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) ist seit dem Hamas-Terrorangriff auf Israel fast täglich präsent, um Solidarität mit Jüdinnen und Juden zu zeigen und an die historische Verantwortung Deutschlands zu erinnern. Die Landesregierung liefert öffentliche Gesten und Worte, eine Social-Media-Kampagne und einen Zehn-Punkte-Plan gegen Antisemitismus.

Doch wie nachhaltig ist das oder ist es eher (sicher gut gemeinte) staatliche Symbolpolitik? Es ist Fakt, dass in Nordrhein-Westfalen bisher mehr Menschen "pro Palästina" als für Israel auf die Straße gehen. Dabei wurde der Hamas-Terror teilweise relativiert oder sogar gefeiert. Die Antisemitismus-Beauftragte Sabine Leutheusser-Scharrenberger berichtete von Juden in Angst in NRW.

Zum Beispiel demonstrierten am 4.11. in Düsseldorf 17.000 für Palästina, während zeitgleich an einer Mahnwache für Solidarität mit Israel nur ein paar hundert Menschen teilnahmen.

Wenig Andrang bei Mahnwachen

Irith Michelsohn blickt in die Kamera

Irith Michelsohn ist Vorsitzende der jüdischen Kultusgemeinde in Bielefeld

Die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Bielefeld, Irith Michelsohn, sagt: "Ich bin dankbar für Anti-Antisemitismus-Kampagnen, wie sie von der Landesregierung gestartet wurden. Aber die Resonanz aus der Bevölkerung ist überschaubar. Die Menschheit ist gleichgültig geworden." Aber das gelte nicht für alle, sie bekomme auch solidarische Botschaften von Menschen, aber nicht so sehr von den Religionsgemeinschaften als Organisation.

"Ich bekomme auch Hass-Mails", sagt Michelsohn. "Und bei unseren Mahnwachen könnten mehr Menschen teilnehmen, zuletzt waren es in Bielefeld etwa 500." Sie sei auch "sehr skeptisch", was die von der Landesregierung initiierte Erklärung mit den muslimischen Verbänden angehe. "Wie das vor Ort in den Moscheegemeinden umgesetzt wird, ob Muslime den Terror der Hamas wirklich als schrecklichen Terror verurteilen, muss man abwarten. Da gibt es große Zweifel bei mir."

Michelsohn kritisiert auch die Medien-Berichterstattung in Deutschland: Es gehe fast nur noch um die Lage der Zivilbevölkerung in Gaza. "Auch ich habe Mitgefühl mit zivilen Opfern, aber manchmal fragt man sich schon: Wie hätte Israel denn nach diesem Massaker reagieren sollen? Hätte das Land zur Tagesordnung übergehen und sich nicht verteidigen sollen?"

Schilderung der Realität zu hart für den Landtag?

Der Vorsitzende des Wissenschaftsausschusses im Landtag, Daniel Zerbin (AfD), versuchte am Mittwoch einen Hochschulvertreter mahnend zu zensieren, als dieser von antijüdischen Beleidigungen ("Drecksjude") an Unis berichtete. Unter Verweis auf die "Würde des Hauses" bat Zerbin darum, "Schimpfwörter" doch bitte zu umschreiben. Doch wem ist damit geholfen, wenn man die schlimme Realität schönredet?

In der Ausschusssitzung kritisierte außerdem Nicole Pastuhoff vom Jüdischen Studierendenverband, dass es keine Anlaufstelle für antisemitische Vorfälle an Hochschulen gebe.

Im erwähnten Zehn-Punkte-Plan der Landesregierung wird ein schulisches Meldesystem für Antisemitismus im Schulsystem angekündigt. Auch hier fragt man sich, warum es so etwas bislang noch nicht gibt. Die Landesregierung greife mit dem Programm "langjährigen Forderungen" der GEW auf, erklärt die Lehrergewerkschaft. Nach vielen Berichten über Antisemitismus bei Schülern gehe es um die "Stärkung der Beratungsangebote und die Entwicklung von Leitlinien für die Darstellung des Judentums und Israels in Bildungsmedien".  

Antisemitismus-Forscher: Was gut ist und was fehlt

Stephan Grigat

Stephan Grigat

Im Vergleich zu anderen Bundesländern sei die Landesregierung in NRW "vorbildlich, was die Benennung und Bekämpfung des Antisemitismus angeht, sowohl in den letzten Jahren als auch in der aktuellen Situation", sagt Stephan Grigat. Professor für Theorien & Kritik des Antisemitismus und Leiter des Centrums für Antisemitismus- & Rassismusstudien (CARS) Aachen. "Was mir fehlt, ist eine deutliche Benennung von Verantwortlichen: Der Ministerpräsident muss aufpassen, dass seine deutliche und begrüßenswerte Solidarisierung mit Israel nicht zu folgenloser Rhetorik verkommt."

Die Kooperationsprojekte des Landes mit israelischen Institutionen seien vorbildlich, so Grigat, und die Antisemitismusbeauftragte des Landes leiste hervorragende Arbeit. "Was es in der aktuellen Situation aber braucht, ist ein entschiedenes Vorgehen gegen die Finanziers des Hamas-Terrors – und die sitzen im Iran. Ich würde von Ministerpräsident Wüst gerne hören, dass er sich gegen jegliches Business mit dem Holocaustleugner-Regime in Teheran ausspricht."

Antisemitismus: Zivilgesellschaft ist gefordert

WDR 5 Diesseits von Eden 12.11.2023 08:06 Min. Verfügbar bis 09.11.2024 WDR 5 Von Wolfgang Meyer


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Irith Michelsohn appelliert an die Zivilcourage aller Bürgerinnen und Bürger: "Man darf nicht egoistisch durchs Leben gehen, sondern muss auf den Straßen Ohren und Augen offenhalten. Wenn Juden verbal oder körperlich attackiert werden, muss man einschreiten oder zumindest versuchen Hilfe zu rufen."

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