Auf die Frage nach seinem Beruf antwortet Günter Grass regelmäßig: Bildhauer, Grafiker und Schriftsteller. Dabei legt er Wert auf dieser Reihenfolge. Das überrascht, denn berühmt geworden ist er als Autor - mit dem Buch "Die Blechtrommel", das am 23. September 1959 erschienen ist. Bis dahin ist Grass noch weitgehend unbekannt, auch dem späteren Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki. Die beiden treffen sich zum ersten Mal 1958 in Polen. Als Reich-Ranicki erfährt, das Grass einen Roman schreibt, frag er ihn nach dem Inhalt. Grass gibt ihm eine Kurzfassung: "Die Blechtrommel: Junge, dreijährig, stellt Wachstum ein."
An der Geschichte des glaszerschreienden Blechtrommlers Oskar Matzerath hat der gelernte Bildhauer über Jahre gearbeitet, größtenteils unter prekären Verhältnissen in einem schäbigen Pariser Heizungskeller. "Der Stoff lagerte ja sehr lange bei mir", erinnert sich Grass. "Es war immer die Suche nach dem ersten Satz - dem ersten Satz, der dann auch der Motor sein musste, für alles weitere Geschehen." Er lautet schließlich: "Zugegeben: Ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt, mein Pfleger beobachtet mich, lässt mich kaum aus dem Auge; denn in der Tür ist ein Guckloch, und meines Pflegers Auge ist von jenem Braun, welches mich, den Blauäugigen, nicht durchschauen kann."
Deftig-barocker Erzählstil
Der stets drei Jahre alte Oskar Matzerath weigert sich, erwachsen zu werden. Er schildert rückblickend seine Erlebnisse während des Nationalsozialismus. Als Angehöriger des Jahrgangs 1924 - nur drei Jahre älter als sein in Danzig geborener Schöpfer Grass - erlebt die Romanfigur unter anderem, wie 1939 in Danzig deutsche Polizisten und Feuerwehrmänner das Polnische Postamt stürmen. Die Aktion gehört zu den ersten Kampfhandlungen während des deutschen Überfalls auf Polen. Die Verteidiger des Postgebäudes werden zum Tod verurteilt, unter ihnen ein Onkel von Grass.
Grass gehört nach dem Zweiten Weltkrieg zur Gruppe 47, einem 1947 entstandenen Zusammenschluss von Schriftstellern. Der kargen Sprache seiner Kollegen setzt Grass einen deftig-barocken Erzählstil entgegen: "Ich erblickte das Licht dieser Welt in Gestalt zweier 60-Watt-Glühbirnen. Bis auf den obligaten Dammriss verlief meine Geburt glatt. Mühelos befreite ich mich aus der von Müttern, Embryonen und Hebammen gleichviel geschätzten Kopflage", sagt Oskar Matzerath in "Die Blechtrommel". Der 600 Seiten starke Roman wird von Kritikern und Lesern gelobt - und als Abrechnung mit der noch weit verbreiteten Nazi-Ideologie und der Schlussstrich-Mentalität der 1950er Jahre verstanden.
Unterm Ladentisch verkauft
Populär macht "Die Blechtrommel" aber nicht nur die politische Haltung, sondern auch drastische Schilderungen und Tabubrüche wie etwa die Szene, als Klein-Oskar Brausepulver aus dem Bauchnabel der Nachbarstochter schleckt. Für konservative Vertreter von CDU und CSU ist das zu viel. "Besonders in Süddeutschland", so Grass, sei "das Buch unterm Ladentisch verkauft" worden. Es kommt zu Prozessen. Der Vizepräsident des Hanseatischen Oberlandesgerichts Bremen, Kurt Bode, muss zum Beispiel einen Verbotsantrag gegen das Buch prüfen. Es sei pornografisch. Doch Bode hält sich zurück: Er hatte 1939 die Verteidiger der Polnischen Post in Danzig zum Tod verurteilt. Bei einem Verbotsverfahren wäre seine damalige Rolle wohl öffentlich geworden.
Der Roman wird ein Welterfolg und in 20 Sprachen übersetzt. 1979 verfilmt Volker Schlöndorff den Hauptteil des Buchs mit David Bennent in der Titelrolle als Oskar Matzerath; Grass schreibt das Drehbuch dazu. "Die Blechtrommel", die mit den danach erschienen Büchern "Katz und Maus" (1961) sowie "Hundejahre" (1963) zur sogenannten Danziger Trilogie gehört, macht Grass nicht nur bekannt. Er wird auch politisch aktiv, warnt vor rechten Umtrieben und macht Wahlkampf für die SPD und Willy Brandt. Über Jahrzehnte wird er als moralische Instanz wahrgenommen. 1999 erhält er - auch für "Die Blechtrommel" - den Literaturnobelpreis.
Langes Schweigen zur Waffen-SS-Mitgliedschaft
Sieben Jahre später folgt der tiefe Fall: Im Buch "Beim Häuten der Zwiebel" erzählt er beiläufig, dass er als 17-Jähriger bei der Waffen-SS gewesen sei. Die Frage von ARD-Moderator Ulrich Wickert an Grass, weshalb er sich erst so spät offenbart, beantwortet der Schriftsteller ungewohnt einsilbig: "Ich war jetzt erst in der Lage, das so zu machen und ich war mir auch keiner Schuld bewusst. Ich bin zur Waffen-SS gezogen worden, war an keinem Verbrechen beteiligt, hatte aber immer das Bedürfnis, eines Tages darüber in einem größeren Zusammenhang zu berichten." Sein langes Schweigen mindert allerdings nicht die literarische Bedeutung der "Blechtrommel". Als Grass den Nobelpreis erhielt, gratulierte ihm US-Schriftsteller John Irving: "Für mich hat er den besten Roman des Jahrhunderts geschrieben." Für ihn sei Grass der Erzähler des Jahrhunderts.
Stand: 24.09.2014
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