Dortmund: Von Polizei erschossener 16-Jähriger war vorher in Psychiatrie

Stand: 11.08.2022, 15:39 Uhr

Bei einem Einsatz hat die Polizei in Dortmund am Montagnachmittag einen Jugendlichen mit einer Maschinenpistole erschossen. In der Bevölkerung regt sich Protest gegen das Vorgehen der Polizei.

Bei dem Jugendlichen handelte es sich um einen unbegleiteten Flüchtling aus dem Senegal, der kaum Deutsch konnte. Er war noch vor kurzem auf eigenen Wunsch wegen psychischer Probleme in einer Psychiatrie behandelt worden.

Von fünf Schüssen getroffen

Nach vorläufigem Obduktionsbefund wurde der 16-Jährige von fünf Schüssen getroffen. Laut Staatsanwaltschaft wurden aber sechs Projektilhülsen gefunden. Es muss also ein Schuss mehr abgegeben worden sein.

Die Schüsse trafen den Jugendlichen in den Bauch, in den Kiefer, in den Unterarm und zweimal in die Schulter. Laut Polizei hatte der Jugendliche bei dem Einsatz die Beamten mit einem Messer angegriffen. Es seien elf Polizisten vor Ort gewesen, einer von ihnen habe die Schüsse aus der Maschinenpistole vom Typ MP5 abgegeben.

Körperverletzung mit Todesfolge

Der 29-jährige Beamte werde zunächst - wie in solchen Fällen üblich - als Beschuldigter geführt. Es gehe um den Anfangsverdacht der Körperverletzung mit Todesfolge, erklärte Carsten Dombert von der Staatsanwaltschaft Dortmund. Vernommen werden die Beamten nicht von ihren direkten Kollegen aus Dortmund. Aus Neutralitätsgründen übernahm das die Recklinghäuser Polizei.

Innenminister Reul verspricht "100-prozentige Aufklärung"

Der nordrhein-westfälische Innenminister, Herbert Reul (CDU), hat im Gespräch mit WDR5 volle Aufklärung versprochen, aber zugleich vor Vorverurteilungen und pauschaler Kritik gewarnt. "Es muss fair zugehen", sagte Reul. Die Polizisten hätten sich in einer "ungeheuer schweren Lage" befunden. Sie hätten in einem Stufenverfahren versucht zu deeskalieren.

Demos gegen Polizeigewalt

Demo nach tödlichen Polizei-Schüssen auf 16-Jährigen in Dortmund - am Abend füllten bis zu 200 Demonstranten den Platz am Tatort

Kurt-Piehl-Platz in direkter Tatort-Nähe

Infolgedessen kam es in Dortmund am Dienstagabend zu Protesten gegen Polizeigewalt. Bis zu 200 Demonstranten nahmen daran teil. Die Versammlung endete schließlich vor der Polizeiwache in der Dortmunder Nordstadt. Dort gab es Rufe in Richtung der Wache. Zwischenfälle habe es aber nicht gegeben, so die Polizei.

Am Mittwochabend haben rund 400 Menschen gegen Polizeigewalt demonstriert. Der Demonstrationszug ging von der Polizeiwache in der Nordstadt durch die Innenstadt bis zum Polizeipräsidium. Auch nach einer Gedenkfeier für den Jugendlichen am Freitagnachmittag haben linke Gruppen erneut zu einer Demonstration aufgerufen. Sie soll auf dem Friedensplatz stattfinden.

Polizeipräsident wirbt für Vertrauen der Bevölkerung

Währenddessen hat der Dortmunder Polizeipräsident Gregor Lange in seinem ersten öffentlichen Statement zum Fall die Bevölkerung gebeten, nicht voreilig zu urteilen. Die Ermittelnden sollten die Chance bekommen, den Fall aufzuarbeiten. Bewertungen des Geschehens würden erst Sinn ergeben, wenn die Ermittlungen abgeschlossen sind. "Mir ist dennoch wichtig, zu betonen, dass die Dortmunder Polizei für Vielfalt, Toleranz und Demokratie steht", sagte Lange. Schon seit Jahren stehe die Polizei in vetrauensvollem Kontakt mit vielen Organisationen und Gemeinden, die sich in der Nordstadt engagieren. Dieser Austausch solle nach Abschluss der Ermittlungen noch intensiver werden.

Möglicherweise Selbstmordabsicht

Der genaue Tathergang ist noch unklar. Laut Dombert hatte einer der Betreuer der Jugendhilfeeinrichtung am Montag die Polizei gerufen, weil er den 16-Jährigen mit einem Messer gesehen habe. Der war der Einrichtung demnach erst vor Kurzem zugeteilt worden und soll dort zuletzt übernachtet haben.

Der Junge soll außerdem nicht gut Deutsch gesprochen haben. Ob das beim Einsatzgeschehen eine Rolle spielte, muss noch ermittelt werden. Was der Jugendliche ursprünglich mit dem Messer vorhatte - ob er sich selbst oder auch andere verletzen wollte - war laut Staatsanwaltschaft zunächst noch unklar. Es stehe auch Selbstmordabsicht im Raum, sagte Dombert.

Jugendlicher starb bei Not-OP

Von der Polizei selbst heißt es, die angerückten Kollegen seien vom Jugendlichen angegriffen worden und hätten dann die Schüsse auf ihn abgegeben. Trotz einer Not-OP überlebte der 16-Jährige nicht. Die Polizisten blieben unverletzt, außerdem habe keine Gefahr für die Öffentlichkeit bestanden. Bei dem Einsatz sind laut Staatsanwaltschaft Reizgas und Elektroschocker benutzt worden.

Zeugen werden befragt

Erkenntnisse über den genauen Ablauf erhoffen sich die Ermittler von Zeugenbefragungen: Laut Dombert sollten drei Betreuer vernommen werden, die den Einsatz mitbekamen. Auch die Polizisten, die nicht schossen, sollen als Zeugen befragt werden.

Messer als gefährlichste Angriffswaffen

Polizist mit Maschinenpistole MP5 vor einem Körper

Polizist mit MP5 (Symbolfoto)

Vor allem der drastisch anmutende Einsatz einer Maschinenpistole in Dortmund sorgt für Kritik. Aber: Messer seien mitunter die gefährlichsten Gegenstände, mit denen Personen angegriffen werden könnten, hieß es vom NRW-Innenministerium. Auf kurze Distanzen sei die Gefahr lebensgefährlicher Verletzungen für Polizisten sehr wahrscheinlich.

"Daher ist der polizeiliche Schusswaffengebrauch oftmals das einzige Mittel, um den Angriff abzuwehren." Geschossen werde dann so lange, "bis eine erkennbare Wirkung eintritt und die Angriffsbewegung unterbrochen wird". Das könne auch mehrere Treffer erfordern.

Opposition fordert Infos zu tödlichen Schüssen

Die SPD-Fraktion hat NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) aufgefordert, das Parlament über den tödlichen Polizeieinsatz in Dortmund zu unterrichten. Der Fall werfe viele Fragen auf, teilte die SPD-Vize-Fraktionschefin Elisabeth Müller-Witt am Mittwoch (10.08.) mit.

Für die Grünen erklärte Fraktionschefin Verena Schäffer, sie sei zutiefst erschüttert. Die Hintergründe und die Abläufe des Polizeieinsatzes müssten nun gründlich untersucht werden. Erst danach sei eine sachlich fundierte Bewertung des Einsatzes und das Ziehen möglicher Konsequenzen angebracht.

Unabhängige Beschwerdestelle gefordert

Kritisiert wurde zudem, dass "aus Neutralitätsgründen" die Polizei Recklinghausen ermittelt - während gleichzeitig die Dortmunder Polizei einem Fall in der Zuständigkeit der Recklinghäuser nachgeht, bei dem ein 39-Jähriger nach einem Einsatz gestorben war. Der Deutsche Anwaltverein (DAV) forderte die Einrichtung unabhängiger Beschwerdestellen.