Braunkohle-Gutachten: So wahrscheinlich sind neue Enteignungen
Stand: 05.10.2023, 09:30 Uhr
Trotz Kohleausstieg 2030: Neue Enteignungen im Rheinischen Braunkohlerevier sind immer noch möglich. Ein Gutachten erörtert jetzt die Bedingungen dafür - und dürfte neue Debatten anstoßen.
Von Tobias Zacher
Trotz des vorgezogenen Kohleausstiegs 2030 sind im Rheinischen Braunkohlerevier in den kommenden Jahren weitere Enteignungen möglich. Aber die rechtlichen Hürden dafür sind teils erheblich.
Zu diesem Ergebnis kommt der wissenschaftliche Dienst des NRW-Landtags in einem Gutachten, das dem WDR vorliegt. Verfasst hat das Papier Professor Walter Frenz, der an der RWTH Aachen den Bereich Berg- und Umweltrecht leitet.
Der Parlamentarische Beratungs- und Gutachterdienst des Landtags ist der politischen Neutralität, der Unparteilichkeit und Ausgewogenheit verpflichtet. Das Gutachten wurde erstellt auf Antrag der Grünen-Abgeordneten Antje Grothus. Ihr Wahlkreis liegt im Rheinischen Revier, im Rhein-Erft-Kreis II. "Das Gutachten bestätigt mich in meiner Haltung, dass es in Zukunft immer schwerer wird, im Revier noch Menschen zu enteignen", sagte sie dem WDR.
Eigentümer wollen Grundstücke nicht an RWE abgeben
Anlass für das Gutachten ist die Tatsache, dass es sowohl am Tagebau Garzweiler II als auch am Tagebau Hambach Grundstücksbesitzer gibt, die ihr Land nicht an den Braunkohlekonzern RWE abtreten wollen. RWE will die Grundstücke dennoch abbagern. In letzter Konsequenz drohen deshalb Enteignungen, die der Konzern mit Bezug auf das Bergrecht beantragen kann. Dagegen können sich die Eigentümer vor Gericht wehren.
Eigentlich wollte die Politik den Konflikt im Rheinischen Revier mit dem aufs Jahr 2030 vorgezogenen Ausstieg aus der Kohleverstromung befrieden. Doch RWE fördert im Rheinischen Revier bis dahin nicht nur Kohle, sondern benötigt zusätzlich auch Sand und Kies, also Erdmasse. Dieser Abraum ist für die Rekultivierung nötig - also für die Wiedernutzbarmachung von Flächen für die Zeit nach der Braunkohleförderung.
Gutachter: Baggern nach Abraum "weniger stark standortgebunden"
Professor Walter Frenz
Ob Enteignungen für das Fördern von Abraum zum Zwecke der Wiedernutzbarmachung zulässig sind - diese Frage erörtert Frenz nun mit seinem Gutachten.
"Die Beschaffung von Abraum ist im Vergleich zur Kohleförderung weniger stark standortgebunden", erklärte Frenz auf WDR-Anfrage. Braunkohle ist rar, Abraum dagegen vielerorts förderbar. Wenn Eigentümer ihr Grundstück also für Abraum statt Kohle hergeben sollen, dann "ist das Gewicht für Enteignungen für ein bestimmtes Grundstück daher geringer, außer gerade dieses wird benötigt", sagte Frenz. Besonders hohe Hürden setzt Frenz für bewohnte Grundstücke: "Nur wenn vor diesem Hintergrund unbedingt eine Enteignung von Grundstücken notwendig ist, darf diese erfolgen", heißt es dazu im Fazit seines Gutachtens.
In dem Papier gibt Frenz zu konkreten Grundstücken und einzelnen, drohenden Enteignungsverfahren im Rheinischen Revier keine Aussagen. Er erörtert die Frage nach den Enteignungen stattdessen auf einer grundsätzlicheren Ebene. Das Gutachten gibt dennoch wichtige Orientierung für gerichtliche Auseinandersetzungen, die für die kommenden Jahre drohen.
Anwalt: Bedeutung des Grundstücks zu berücksichtigen
"RWE wird nachweisen müssen, dass eine Inanspruchnahme des Grundstückes alternativlos ist; hierzu kommt es auf die Details vieler Prüfungen an". Dies ist die Schlussfolgerung, die Rechtsanwalt Dirk Teßmer aus dem Gutachten von Frenz zieht. Außerdem sei die Bedeutung des Grundstücks für den Eigentümer zu berücksichtigen. Teßmer hat in der Vergangenheit Anwohner im Rheinischen Revier im Rechtsstreit gegen RWE vertreten.
Hoffnung für Bewohner
Das Gutachten ist insofern ein Hoffnungsschimmer für Grundstücksbesitzer wie Heinrich Portz. Er lebt in der Nähe des Tagebaus Hambach als einer der letzten Einwohner im alten Kerpener Ortsteil Manheim - und will dort nicht weg.
Tagebau Hambach
In dem Haus, in dem er seit rund 70 Jahren zu Hause ist, ist er geboren. Die Bedeutung, die dieses Stück Heimat für ihn hat, ist also besonders groß. Dazu kommt: RWE will im Erdreich unter seinem Haus lediglich Abraum fördern - und eben keine Kohle. "Es erscheint mir ausgeschlossen, dass in diesem Bereich Enteignungen zur Gewinnung von Erdmassen erfolgen können", sagt Anwalt Teßmer mit Blick auf Portz' Heimatort Manheim. Dazu komme, dass es zum Zweck der Abraum-Gewinnung nach deutschem Bergrecht noch keine Enteignung gegeben habe, "wir befinden uns also auf juristischem Neuland", so Teßmer.
Niedriger dürften die Hürden für Enteignungen dagegen am Tagebau Garzweiler II sein. Auch dort gibt es Grundstücke, deren Eigentümer nicht an RWE verkaufen wollen. Diese Flächen sind jedoch unbewohnte Äcker, außerdem ist dort der Abbau von Kohle geplant. Auch hier müssten Gerichte jedoch jeden Einzelfall genau prüfen: "Der vorgezogene Kohleausstieg auf das Jahr 2030 hat die Anforderungen für Enteignungen jedenfalls erhöht", so Teßmer.
Grothus: Enteignungen "völlig aus der Zeit gefallen"
Antje Grothus (Grüne)
Die Grüne Antje Grothus, die das Gutachten beim Parlamentarischen Dienst bestellt hat, betont: "Es ist völlig aus der Zeit gefallen, heute noch Menschen ihre Felder oder gar ihr Zuhause für den Tagebau wegzunehmen". Von RWE forderte sie eine "enteignungsfreie Tagebauplanung".
Auf WDR-Anfrage teilte RWE mit, dass im Rheinischen Revier bislang Enteignungen "glücklicherweise eine ganz seltene Ausnahme geblieben" seien. In der Regel habe man sich mit Eigentümern auf Kaufverträge einigen können. "Auf dieser guten Erfahrung aufbauend, gehen wir auch bei den noch anstehenden Grunderwerben von einer gütlichen Einigung im Rahmen der Entschädigungsgrundsätze aus, um diese erfreuliche Bilanz fortzusetzen", teile ein Sprecher mit.
RWE und Wirtschaftsministerium: außergerichtliche Einigung
Ähnlich äußerte sich das zuständige NRW-Wirtschaftsministerium: "Erfahrungsgemäß wird in nahezu allen Fällen eine einvernehmliche Lösung erreicht", hieß es auf Anfrage. "Grundsätzlich gilt, dass Enteignungen stets das letzte Mittel sind. Einvernehmliche Lösungen zwischen den Beteiligten sind immer vorzuziehen", so das Ministerium.
Schließlich argumentiert auch Gutachter Frenz in eine ähnliche Richtung: "Um die Akzeptanz zu steigern (...) ist an eine Mediation zu denken, welche auf der Basis gewaltfreier Kommunikation die Interessen der verschiedenen Beteiligten klar herausarbeitet, ein gegenseitiges Verständnis sucht und auf dieser Basis das gemeinsame Erarbeiten von Lösungen ermöglicht." Die Grüne Grothus begrüßt, "dass das Gutachten auch eine Verständigung der verschiedenen Interessengruppen und Beteiligten anregt."
Einig werden muss sich der Konzern RWE am Ende aber mit Menschen, die an ihrer Heimat hängen, so wie Heinrich Portz.