Stadt Kerpen und RWE: "Zukunft verkauft"?
Stand: 11.07.2023, 06:00 Uhr
Der Kohlekonzern RWE und die Kolpingstadt Kerpen schlossen 2017 einen Vertrag - und hielten ihn jahrelang unter Verschluss. Nun ist der Deal öffentlich - und die Kritik heftig.
Von Tobias Zacher
Heinrich Portz steht vor einem Zaun im Kerpener Ortsteil Manheim und blickt auf das Grundstück, auf dem einmal seine Nachbarn wohnten. Sie sind längst weggezogen, ihre Häuser abgerissen. Das Unkraut wuchert grün, teils Hüfthoch.
Heinrich Portz, Landwirt aus Manheim
In wenigen hundert Metern Entfernung ist ein riesiger Schaufelradbagger deutlich zu sehen. Er steht im Braunkohletagebau Hambach. Den will RWE bis auf das Manheimer Siedlungsgebiet ausweiten. Auch das Haus und der Hof von Landwirt Portz sollen dafür weichen.
"Ich bin in diesem Zimmer geboren" sagt und zeigt auf ein Fenster links im Obergeschoss. "Ich will hier nicht weg."
Von der Stadtführung erwartet Portz keine große Hilfe. Während sich die Bürgermeister anderer Anrainer-Dörfer teils heftig gegen Vorhaben von RWE wehrten und damit zum Beispiel in Morschenich auch Erfolge erzielten, ist die Lage in Kerpen-Manheim anders. Kritiker sprechen von vorauseilendem Gehorsam der Stadt gegenüber dem Braunkohlekonzern.
Vereinbarung jahrelang unter Verschluss
Eine mögliche Erklärung dafür liegt dem WDR nun vor: Eine Art Stillhalteabkommen, das die Stadt Kerpen im Jahr 2017 mit RWE Power geschlossen hat. Diese so genannte Rahmenvereinbarung war nach ihrem Zustandekommen jaherlang unter Verschluss.
Lobbycontrol nennt diese Übereinkunft "extrem fragwürdig".
Der BUND spricht von einer "unheiligen Allianz".
Die Ortsverbands-Vorsitzende der Kerpener Grünen, Annika Effertz, sagt, die Stadt habe "unsere Heimat verkauft".
Die Stadt Kerpen teilt dagegen mit, eine solche Vereinbarung entpreche "absolut den üblichen Gepflogenheiten".
Das Dokument trägt unter anderem die Unterschrift vom Leiter der Entwicklung Braunkohle von RWE Power, Michael Eyll-Vetter. Für die Stadt Kerpen hat Bürgermeister Dieter Spürck (CDU) unterschrieben. Der WDR dokumentiert den Wortlaut des Papiers.
Kerpen will Tagebau nicht in Frage stellen
In der Vereinbarung sagt die Stadt mit Blick auf den Tagebau Hambach zu, "dass die Weiterentwicklung des Tagebaus von der Stadt Kerpen nicht in Frage gestellt wird".
Im Gegenzug ist vereinbart, dass RWE der Stadt "Hilfestellungen und konkrete Projekte" zukommen lässt. An anderer Stelle heißt es: "Zur Förderung der betrieblichen Akzeptanz ist RWE Power bereit, die Stadt Kerpen im Zuge der Nachbarschaftshilfe zu unterstützen".
RWE stellt Spenden und Arbeitsplätze in Aussicht
Wie diese Unterstützung aussieht, ist auf drei Seiten unter der Überschrift "Handlungsfelder der zukünftigen Zusammenarbeit" aufgeführt.
RWE stellt der Stadt darin "die Stärkung der Wirtschaftskraft" und die "Stärkung von Arbeitsplätzen" in Aussicht. "Ortsansässigen Kerpener Firmen soll auch zukünftig die Möglichkeit der Beteiligung an Ausschreibungen des Unternehmens gegeben werden". RWE verspricht auch "Spenden und Sponsoringmaßnahmen" für Kerpener Vereine. Schließlich heißt es: "Zur Förderung der betrieblichen Akzeptanz ist RWE Power bereit, die Stadt Kerpen im Zuge der Nachbarschaftshilfe zu unterstützen".
Der WDR wollte wissen, welche Hilfen konkret RWE der Stadt Kerpen auf Grundlage dieser Rahmenvereinbarung hat zukommen lassen und welche Summen geflossen sind.
RWE wollte dazu keine Angaben machen.
Stadt räumt Zuwendungen von RWE ein
Die Stadt teilt in ihrer Antwort zunächst mit, eine Auflistung sei wegen der "dünnen Personaldecke" in Urlaubszeiten aktuell nicht möglich.
Schließlich räumt ein Stadtsprecher vage ein: "Ja, es gibt nach meiner Kenntnis Zuwendungen und Unterstützungen an Vereine, Organisationen und Institutionen" - diese seien jedoch "keinesfalls verwerflich". Man habe außerdem Flächenanteile für das Industriegebiet "Türnich 3" von RWE "zu marktüblichen Preisen" kaufen können und auch beim Wohngebiet Wahlenpfad mit dem Kohlekonzern kooperiert.
Zum konkreten finanziellen Umfang der Zuwendungen von RWE sowie zu möglichen weiteren Unterstützungen äußerte sich das Büro des Bürgermeisters nicht.
BUND: "Veritabler Skandal"
Dirk Jansen (BUND)
Dirk Jansen vom Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND NRW) begleitet die Entwicklungen im Rheinischen Braunkohlerevier seit vielen Jahren. Ihn stört, dass die Rahmenvereinbarung ausgerechnet in den Jahren wirksam war, in denen intensiv um den Hambacher Forst gerungen wurde.
In dieser kritischen Phase habe die Stadt Kerpen durch die Vereinbarung "ganz klar gesagt: wir machen nichts gegen die RWE-Pläne", so Jansen. "Das ist für mich ein veritabler Skandal".
Bürgermeister legte Stadtrat fertige Vereinbarung vor
Dieter Spürck (CDU), Bürgermeister Kerpen
Nach Angaben der Stadt wurde die Rahmenvereinbarung am 07. November 2017 erstmals dem Stadtrat in nicht-öffentlicher Sitzung vorgelegt und eine Woche später, am 14. November, vom Rat verabschiedet - ebenfalls unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
Im Vorfeld hatte Bürgermeister Spürck den Deal eingefädelt: Er legte dem Stadtrat die schon fertig ausformulierte, vierseitige Vereinbarung vor. Zu diesem Zeitpunkt hatte RWE das Papier bereits unterzeichnet, die Signaturen sind auf den 03. November 2017 datiert.
Spürck lässt mitteilen, er selbst habe die Vereinbarung erst nach dem Stadtratsbeschluss vom 14.11.2017 unterzeichnet. Unabhängig prüfen lässt sich das nicht. Seine Unterschrift trägt kein gesondertes Datum.
Westpol: Die Akten Hambacher Forst
Westpol. 15.09.2019. 05:03 Min.. UT. Verfügbar bis 30.12.2099. WDR.
Ausschluss der Öffentlichkeit und Schweigepflicht
Im Auftrag des CDU-Bürgermeisters wurde auch die Nichtöffentlichkeit der Sitzung veranlasst. Dies führte dazu, dass die Rahmenvereinbarung sowie der Stadtratsbeschluss dazu für die Bürgerinnen und Bürger der Stadt Kerpen jahrelang verborgen blieben. Den Abgeordneten des Stadtrats - auch denen, die dagegen stimmten - waren dadurch die Hände gebunden. Denn Angelegenheiten aus nicht-öffentlichen Sitzungen unterliegen der Schweigepflicht - ein Verstoß dagegen wäre strafbar.
Erst im Juni 2020, mehr als zweieinhalb Jahre nach dem nichtöffentlichen Beschluss des Rats, tauchte die Rahmenvereinbarung im digitalen Ratsinformationssystem der Stadt Kerpen auf. Diese Datenbank ist öffentlich einsehbar. Doch die Vereinbarung blieb dort neben tausenden weiteren Dokumenten unbeachtet – und deshalb der Kerpener Bevölkerung weitgehend unbekannt.
Sogar im Büro des Bürgermeisters war bis zu den WDR-Recherchen Anfang Juli 2023 nicht bekannt, dass das Papier öffentlich abrufbar war. Er hatte zu diesem Zeitpunkt "keine Kenntnis davon, dass die Rahmenvereinbarung im Juni 2020 als Anlage Teil einer öffentlichen Sitzung war", teilte ein Sprecher der Stadt mit.
Lobbycontrol: "Unter demokratischen Gesichtspunkten nicht tragbar"
Nina Katzemich, Lobbycontrol
Die Lobbyismus-kritische Nichtregierungsorganisation Lobbycontrol verurteilt die Geheimhaltung: "Die Bürgerinnen und Bürger wissen nicht, dass Entscheidungen zugunsten von RWE getroffen werden, weil die Stadt dafür im Gegenzug 'Hilfestellungen' erhält", teilt Nina Katzemich mit. "Unter demokratischen Gesichtspunkten ist das eigentlich nicht tragbar", kritisiert sie.
Die Stadt Kerpen sieht das anders: "In den Beratungen wurden auch wesentliche Grundlagen, Strategien und Geschäftsmodelle vorgelegt bzw. diskutiert. Darin ist die Nichtöffentlichkeit begründet", heißt es in einer Stellungnahme.
Hatte der Vertrag Auswirkungen auf den Tagebau-Verlauf? Stadt schweigt
Die Verständigung, "dass die Weiterentwicklung des Tagebaus von der Stadt Kerpen nicht in Frage gestellt wird", findet sich gleich auf der ersten Seite der Rahmenvereinbarung. Dies sei das "Grundverständnis" der "konstruktiven Partnterschaft" zwischen Stadt und Braunkohlekonzern. "Es ist das gemeinsame Verständnis, diese Zusammenarbeit fortzusetzen", heißt es wenige Sätze später.
Der WDR wollte wissen, welche Auswirkungen auf den Verlauf des Tagesbaus die Vereinbarung zwischen der Stadt Kerpen und RWE hatte.
Die Stadtspitze beantwortete diese Frage nicht.
Der Konzern antwortete, den Verlauf des Tagebaus regele nicht die Rahmenvereinbarung, sondern "das zurzeit laufende Braunkohlenplan-Änderungsverfahren für den Tagebau Hambach".
Für "Manheimer Bucht" müssten Menschen umziehen
Politisch ist die Zusage der Stadt in puncto Tagebau-Verlauf pikant, denn RWE will unbedingt die "Manheimer Bucht" baggern - eine Erweiterung des Hambacher Tagebaus. Zugleich leben auf dem dafür vorgesehenen Gebiet noch Menschen wie Heinrich Portz, die dort nicht weg wollen.
In ihrer entsprechenden Leitentscheidung von 2021 hatte die Landesregierung festgehalten: "Flächeninanspruchnahmen für die ausschließliche Gewinnung von Abraum sind auf den zwingend erforderlichen Umfang zu begrenzen."
Doch ist das Abreißen von Portz‘ Wohnhaus "zwingend erforderlich"? Und gelten die weitgehenden Rechte von RWE weiter, obwohl in der Manheimer Bucht keine Braunkohle gefördert werden soll, sondern nur Abraum? "Wir werden das gerichtlich klären lassen", sagt Heinrich Portz.
Hambach soll in kommender Leitentscheidung keine Rolle spielen
Die Landesregierung könnte für mehr Klarheit sorgen - mit ihrer neuen Leitentscheidung zur Braunkohle. Die wird gerade erarbeitet, ist für August dieses Jahres angekündigt. Doch den Tagebau Hambach will die Landesregierung darin nicht neu regeln. Die kommende Leitentscheidung soll sich stattdessen auf den benachbarten Tagebau Garzweiler fokussieren.
Mona Neubaur (Grüne), NRW-Wirtschaftsministerin
Das zuständige Wirtschaftsministerium von Mona Neubaur (Grüne) teilt auf Anfrage mit: "Für das laufende Braunkohlenplan-Änderungsverfahren für den Tagebau Hambach ist die Grundlage im Wesentlichen die Leitentscheidung der Vorgängerregierung". Das Grün geführte Haus verweist damit auf ein Papier, das im damals FDP-geführten Ministerium entstanden ist.
Die Änderung des Braunkohlenplans Hambach erarbeitet derzeit die Bezirksregierung Köln. Die Anpassungen basieren auf den Plänen von RWE, 2025 soll der neue Braunkohleplan abgeschlossen sein. Neubaurs Ministerium wird ihn am Ende prüfen und genehmigen.
Einer der letzten Bewohner Manheims will standhaft bleiben
"Wenn ich weg muss, das wird ein ganz großes Problem für mich", sagt Heinrich Portz sichtlich angefasst. "Ich kann nicht in ein Mietshaus ziehen. Ich weiß gar nicht, was ich dann mache".
Die Hoffnung zu bleiben will er trotzdem nicht aufgeben. "Ich könnte mir auch vorstellen, dass das über mehrere Instanzen geht, wenn ich verliere", sagt er über das mögliche Gerichtsverfahren.
Hinweis: In einer früheren Version des Artikels hieß es, die Rahmenvereinbarung sei mehr als fünf Jahre nicht öffentlich zugänglich gewesen. So hatte es das Büro des Bürgermeisters im Juli 2023 auch dargestellt. Inzwischen teilt die Stadt mit, dass die Rahmenvereinbarung seit Juni 2020 öffentlich einsehbar war. Wir haben die Formulierungen entsprechend angepasst.