WDR: 350.000 Menschen sollen in Deutschland laut Forschungsministerin Karliczek an Spätfolgen einer Covid-Infektion leiden. Eine realistische Zahl?
Joachim Schultze: Zehn Prozent sind im Augenblick eine realistische Schätzgröße, die durch mehrere internationale Studien gestützt wird. Alle diese Studien beschreiben Beobachtungen, bei denen nach mehr als vier Wochen nach dem ersten Auftreten immer noch Symptome bestehen, häufig auch noch nach sechs Monaten.
Joachim Schultze
Professor Dr. Joachim Schultze ist Direktor für Systemmedizin am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen e.V. (DZNE) in Bonn. Zudem ist er seit 2007 Professor für Genomik und Immunregulation an der Universität Bonn und war von 2002 bis 2007 als Professor für Tumorimmunologie an der Universität Köln tätig.
WDR: Wer ist vor allem betroffen?
Schultze: Je schwerer der akute Verlauf, desto wahrscheinlicher das Auftreten von Long Covid-19. Aber auch Patienten mit mildem oder sogar asymptomatischen Verlauf können an Long Covid-19 leiden. Hier ist der Prozentsatz bisher weniger gut untersucht.
WDR: Was genau muss man sich unter Long Covid vorstellen?
Schultze: Häufig genannte Symptome waren Fatigue - also ausgeprägte Erschöpfung -, Gelenk- und Muskelschmerzen, Atemnot, Schmerzen im Brustkorb, Haarausfall, Schlafstörungen, Angstzustände, depressive Symptomatik, andauernder Durchfall, Husten, posttraumatische Belastungsstörung. Die Symptome sind häufig gravierend und lassen kein normales Leben der Betroffenen mehr zu.
WDR: Gibt es Schätzungen, welche Spätfolgen wie häufig sind?
Schultze: Es sind Schätzungen berichtet worden, die sich aber noch sehr stark von Studie zu Studie in den Prozentzahlen unterscheiden. Hier bedarf es noch zusätzlicher Untersuchungen in größeren Studien.
WDR: Verschwinden die Symptome wieder völlig?
Schultze: Wie lange diese Spätfolgen anhalten, kann nicht abschließend abgeschätzt werden. Dafür sind die Verlaufszeiten häufig noch zu kurz.
Bei den schweren Erkrankungen zeichnet sich ab: Je schwerer ein Organ geschädigt wurde, desto länger besteht der Funktionsverlust. In manchen Fällen muss auch von einer zunehmenden Verschlechterung ausgegangen werden. Solche Schäden könnten irreversibel sein.
Bei den nach asymptomatischer oder milder akuter Erkrankung auftretendem Folgen kann über Dauer und Reversibilität noch weniger gesagt werden.
WDR: Wie schätzen Sie die Datenlage ein?
Schultze: Die bisher erhobenen Daten sind von hoher Qualität. Wir benötigen jedoch viel mehr Daten und Untersuchungen, um dieses komplexe multifaktorielle Syndrom wirklich zu verstehen und um daraus Vorschläge für Diagnostik, Therapie und Prävention ableiten zu können.
Insbesondere erscheint es mir sehr wichtig, dass wir in Deutschland ausreichend Daten erheben, um eventuell für unsere Region in Europa spezifische Ursachen zu erfassen.
WDR: Können Impfungen vor "Long Covid" schützen? Und wäre damit eine Impfung auch für Kinder empfehlenswert?
Schultze: Grundsätzlich gilt, dass diese Frage so direkt noch nicht beantwortet werden kann, da hierzu Daten fehlen. Die Impfungen verhindern schwerste Verläufe und alle damit verbundenen langfristigen Folgeschäden. Insofern werden die Impfungen einen großen Teil der Folgeschäden ebenfalls verhindern.
Aufgrund der Tatsache, dass wir keine guten Erkenntnisse über mögliche Spätfolgen bei Kindern haben, halte ich die Impfung zum Schutz vor Covid-19 im Augenblick für die bessere Lösung, da damit erkrankungsbedingte Folgeschäden ausgeschlossen werden können.