Die EM als Superspreading-Event? Eine erste Corona-Bilanz

Stand: 11.07.2021, 15:27 Uhr

Hat die Fußball-EM mit ihren vollen Stadien dafür gesorgt, dass sich die Delta-Variante des Coronavirus in Europa zusätzlich ausbreiten konnte? Die UEFA weist jede Schuld von sich. Politiker und Mediziner sehen das anders.

Von Yaena Kwon

Über 2.500 Corona-Neuinfektionen stehen laut der europäischen Gesundheitsbehörde ECDC in Zusammenhang mit der Fußball-Europameisterschaft. Auch in Deutschland werden 18 Fälle mit der EM in Verbindung gebracht.

"Die Anzahl der Infektionen kann man ausrechnen"

Die Dunkelziffer sei jedoch viel höher, sagt Virologin Ulrike Protzer, Direktorin des Instituts für Virologie an der TU München im WDR-Interview. Vor allem in England, wo seit den Halbfinalspielen mehr als 60.000 Zuschauer und Zuschauerinnen ohne Maskenpflicht ins Stadion dürfen, werde sich das Delta-Virus stärker ausbreiten.

"Man kann sich das mathematisch ausrechnen. Wenn in einem Fußballstadion 60.000 Menschen sitzen, bei einer Inzidenz von knapp 300 in Großbritannien, dann sind mindestens 400 Infizierte dabei, die wiederum andere anstecken können. Auch draußen, wenn die Menschen keine Maske tragen und keine Abstände eingehalten werden." Durch so eine Großveranstaltung, so Protzer, könnten sich Hunderte bis Tausende von Menschen infizieren.

In den letzten Wochen hat sich die als ansteckender geltende Delta-Variante europaweit verbreitet. Laut Angaben der ECDC sind die Schotten am stärksten betroffen. Nach Spielen in Glasgow und im Londoner Wembley-Stadion stehen mindestens 1.991 Fälle in Verbindung zur EM.

Wenig Angst in Russland zu spüren

Finnland vermeldet einen Anstieg auf fast 500 Infektionen, nachdem sich finnische EM-Fans nach den Spielen in St. Petersburg angesteckt hatten. In Russland steigen die Corona-Zahlen ebenfalls landesweit an, berichtet WDR-Korrespondent Jo Angerer aus Moskau:

"Ob das nur auf die Fußballspiele zurückzuführen ist, kann man schwer sagen. Viele Experten hier allerdings meinen, dass Sportevents mit vielen Zuschauern, dicht gedrängt und ohne Maske, durchaus gefährlich sind. Von Angst in der Bevölkerung ist allerdings wenig zu spüren. Nach einer aktuellen Umfrage haben 57 Prozent aller Russen keine Angst, sich anzustecken."

Die UEFA weist Kritik zurück

Die UEFA beruft sich auf die Test- und Maskenpflicht in den Fußballstadien und weist jegliche Kritik an der EM zurück. Es sei unverantwortlich, den Fußball zu beschuldigen, so UEFA-Präsident Aleksander Ceferin.

Mediziner halten es für fahrlässig, dass im Londoner Wembley-Stadion die Maskenpflicht aufgehoben wurde. Michael Hallek, Direktor der Klinik für Innere Medizin an der Uniklinik Köln, sorgt sich vor allem um die Nicht-Geimpften und junge Menschen:

"Daten aus England zeigen, dass vor allem Kinder von der Delta-Variante stärker betroffen sind. Zehn bis 15 Prozent bekommen Long Covid, also längerfristige Gesundheitsfolgen. Und das ist bei Kindern keine lustige Sache, wenn sie nicht mehr leistungsfähig sind. Davor habe ich Sorge, natürlich auch vor schwer erkrankten jüngeren Menschen, die wir in Köln jetzt auch schon wieder sehen."

Lauterbach: "UEFA hat versagt"

SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach hat der UEFA erneut die Schuld für Corona-Tote gegeben: "Auf dieser EM liegt ein Schatten und die UEFA hat durch ihre ignorante Vorgehensweise Todesfälle zu verantworten", sagte er dem Magazin 11Freunde. "Die UEFA hat in meinen Augen versagt."

Ruf nach klaren Regeln für künftige Turniere

Schon jetzt fordern Politiker wie die grüne Europaabgeordnete Viola von Cramon Konsequenzen und ein klares Regelwerk für künftige Sportereignisse in einer Pandemielage. Dem WDR sagte von Cramon, bis zur nächsten Europameisterschaft müsse auf europäischer Ebene ein gesetzliches Rahmenwerk existieren, damit zum Beispiel beim Verstoß gegen gesundheitliche Präventionsmaßnahmen ein Ausrichter-Standort ausgeschlossen werden könne.

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