Steigende Inzidenzen: Sind wir auf die vierte Corona-Welle vorbereitet?

Stand: 22.10.2021, 14:42 Uhr

Die Zahl der Corona-Neuinfektionen steigt stetig. Die Kliniken füllen sich auch mit Patienten, die kein Covid-19 haben. Gleichzeitig fehlt dort das Pflegepersonal. Wie gut sind wir auf die vierte Welle der Pandemie vorbereitet?

Von Jörn Kießler

Die kalte Jahreszeit hat begonnen und die Corona-Zahlen steigen. In seinem Wochenbericht hatte das Robert Koch-Institut (RKI) erst am Donnerstagabend erklärt, dass damit zu rechnen sei, "dass sich im weiteren Verlauf des Herbstes und Winters der Anstieg der Fallzahlen noch beschleunigen wird". Wie als Beweis für diese Aussage stieg der bundesweite Inzidenzwert von Donnerstag auf Freitag sprunghaft von 85,6 auf 95,1.

Für den wissenschaftlichen Leiter des Intensivregisters der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), Christian Karagiannidis, hat damit auch erst jetzt die vierte Welle der Pandemie begonnen, wie er dem WDR sagte.

"Den Anstieg, den wir jetzt seit zehn, 14 Tagen sehen, halte ich für den echten Beginn der Herbst-Winter-Welle." Christian Karagiannidis, wissenschaftlicher Leiter DIVI-Intensivregister

Aber sind wir darauf vorbereitet? Schauen wir auf die richtigen Parameter, um Handlungsempfehlungen abzuleiten? Und reicht die aktuelle Impfquote aus, um eine Überlastung der Krankenhäuser im kommenden Winter zu verhindern, oder brauchen wir wieder strengere Corona-Regeln?

Wie aussagekräftig sind Inzidenz, Hospitalisierungsrate und Intensivbettenbelegung?

Auch wenn die Sieben-Tage-Inzidenz mittlerweile nicht mehr als der einzige Indikator für die Bewertung der Lage der Pandemie herangezogen wird, beobachtet Karagiannidis die aktuelle Entwicklung mit Sorge. Denn mit der steigenden Inzidenz füllten sich auch die Intensivstationen mehr und mehr mit Corona-Patienten, wie der Mediziner auf Twitter schreibt.

Nach Informationen des RKI liegt die Hospitalisierungsrate aktuell bei 2,45. Das heißt, innerhalb der vergangenen Woche wurden pro 100.000 Einwohner 2,45 Corona-Infizierte in Krankenhäuser eingewiesen. Einen Grenzwert, ab welcher Hospitalisierungsrate beispielsweise strengere Corona-Maßnahmen ergriffen werden, gibt es jedoch nicht.

Der dritte Indikator - der Anteil der Covid-19-Belegung an allen betreibbaren Intensivbetten - gibt zwar einen Überblick, wie viele Corona-Infizierte schwer erkrankt sind. Darüber, wie ausgelastet die Intensivstationen sind, sagt er aber wenig aus. So sind aktuell nur 6,6 Prozent der Patienten auf den Intensivstationen mit SARS-CoV-2 infiziert. Das heißt aber nicht, dass die Lage dort entspannt ist.

Denn neben der sich aufbauenden Corona-Welle werden viele Menschen mit anderen respiratorischen Infektionen wie der Grippe oder dem RS-Virus in die Kliniken eingeliefert. Dazu kommt, dass dort ohnehin schon Personal fehlt.

"Ungewiss ist, wie sich die Kombination aus Influenza und Covid-19 auf den Intensivstationen auswirken wird." Jochen Brink, Präsident der Krankenhausgesellschaft Nordrhein-Westfalen

Würden mehr Impfungen helfen?

Definitiv. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) erklärt, dass die derzeitige Situation in den Kliniken wegen des Impffortschritts nicht mit der Lage im vergangenen Jahr vergleichbar sei. Damals waren die Zahlen der Covid-Patienten, die auf Intensivstationen behandelt werden mussten, doppelt bis viermal so hoch wie aktuell. Demnach sind 85 bis 90 Prozent der Patienten dort nicht geimpft.

Zwar geht das RKI in seinem aktuellen Wochenbericht davon aus, dass es mehr sogenannte Impfdurchbrüche - also Infektionen bei bereits Geimpften - geben wird. Die Wahrscheinlichkeit, infolge eines solchen Impfdurchbruchs schwer oder sogar lebensgefährlich zu erkranken, sei aber weiter sehr gering.

Wie wichtig sind Booster-Impfungen?

In diesem Zusammenhang ist es jedoch problematisch, dass die Auffrischungsimpfungen für Ältere nur langsam voranschreiten. Lediglich rund 14 Prozent der mehr als zehn Millionen über 70-Jährigen in Deutschland hat bislang eine solche Booster-Impfung bekommen. Gerade bei ihnen nimmt aber der Impfschutz durch die beiden ersten Impfungen relativ schnell ab, wie Reinhold Förster vom Institut für Immunologie der Medizinischen Hochschule Hannover tagesschau.de bestätigte.

"Die Halbwertzeit ist relativ gering. Je älter die Menschen sind, umso schneller geht der Immunschutz zurück." Reinhold Förster, Institut für Immunologie der Medizinischen Hochschule Hannover

Das lässt sich auch an den Infektionszahlen des RKI ablesen. Erstmals seit der Woche vom 3. bis 9. Mai ist die Sieben-Tage-Inzidenz demnach bei Menschen über 90 Jahren vergangene Woche wieder auf über 50 gestiegen.

Brauchen wir wieder strengere Corona-Regeln?

Eine Forschungsgruppe um die Virologin Viola Priesemann vom Göttinger Max-Planck-Institut hat untersucht, wie man die Zahl der Neuinfektionen auf lange Sicht niedrig halten und die Pandemie so unter Kontrolle halten könnte - auch ohne Lockdowns oder extrem strenge Corona-Regeln. Ihrer Meinung nach wäre dies möglich, wenn die Sieben-Tage-Inzidenz unter 1 liegt. Obwohl NRW mit einer Inzidenz von 61 unter dem bundesweiten Durchschnitt liegt, sind wir von solchen Werten weit entfernt.

Fazit

Umso wichtiger ist es, dass sich mehr Junge impfen lassen und die älteren Menschen möglichst zeitnah ihre Auffrischungsimpfung erhalten. Um schärfere Regeln einzuführen, wenn die Inzidenzen dramatisch steigen, fordern die Ministerpräsidenten einen bundesweit einheitlichen Rechtsrahmen für den Fall, dass die "epidemische Notlage" im November ausläuft. AHA-Regeln und (örtlich begrenzte) Lockdowns werden also vermutlich auch weiterhin zum Repertoire der Corona-Schutzmaßnahmen gehören.