Wenn das Smartphone von Lars Greiner einen schrillen Alarmton von sich gibt, weiß er sofort: Jetzt kommt es wieder auf jede Minute an. Im Notfall schnell zur Hilfe zu eilen, darin ist der Feuerwehrmann aus dem Kreis Viersen geübt. Der Autoschlüssel liegt immer griffbereit, in die Schuhe muss er nur reinschlüpfen. Auf der kurzen Autofahrt zum Einsatzort schwingt immer auch der Gedanke mit: Kann ich diesen Menschen retten, der gerade mit dem Tod ringt?
Regionale Unterschiede in der Notfallversorgung
Die Aussicht, ein Herz wieder zum Schlagen zu bringen, ist gering. Dennoch könnten in Deutschland mehr Menschen nach einem Herz-Kreislauf-Stillstand wieder erfolgreich reanimiert werden, wenn sich Abläufe in der Rettungskette verbessern würden. Das zeigt eine umfangreiche Datenrecherche des SWR. Von jährlich ca. 55.000 Reanimierten überleben laut Deutschem Reanimationsregister nur etwa 7.400. Mit Blick auf die erfolgreichsten Rettungsdienstbereiche in Deutschland hätten wohl mehr als 10.000 Menschen gerettet werden können. Das Team des SWR zeigt, was eine gute Rettungskette ausmacht - und in welchen Regionen Deutschlands die Notfallversorgung schlecht ist:
Dass in Sachen Notfallversorgung nachgebessert werden muss, weiß auch die Bundesregierung - und brachte am Mittwoch eine Reform auf den Weg. Das Kabinett verabschiedete dazu den Entwurf.
Wie es um die Notfallversorgung in NRW steht
Auch in Nordrhein-Westfalen gibt es qualitative Unterschiede. Nur 11 von 54 Rettungsdienstbereichen gaben an, dass sie bei Reanimationsfällen so häufig wie wissenschaftlich empfohlen, also innerhalb von acht Minuten, am Einsatzort sind. Und auch wenn gerade viele Leitstellen eine standardisierte oder strukturierte Notrufabfrage etablieren, um Herzstillstände schneller zu erkennen, hat der Großteil bisher kein System zur Überprüfung der Abläufe eingeführt.
Wie unterschiedlich gut der Rettungsdienst in NRW ist, lesen Sie ausführlich hier:
Ersthelfer-Apps in der Hälfte aller NRW-Rettungsdienstbereiche
Ein entscheidender Baustein für eine funktionierende Rettungskette kann eine Ersthelfer-App sein, eine sogenannte First-Responder-App, wie sie Feuerwehrmann Greiner nutzt. Und das funktioniert so: Geht ein Notruf wegen eines Herzstillstands in der Leitstelle ein, kann von dort ein Alarm über die App abgesetzt werden. Per GPS sucht diese dann im Umkreis des Einsatzortes nach qualifizierten Ersthelfenden, die je nach App-Anbieter maximal drei bis fünf Minuten entfernt sein dürfen. Damit sie noch vor dem Rettungsdienst eintreffen und eine Herzdruckmassage einleiten können.
Die Hälfte aller 54 Rettungsdienstbereiche in Nordrhein-Westfalen hat eine Ersthelfer-App in den vergangenen Jahren eingeführt. Nicht nur der Kreis Borken möchte sie nicht mehr missen. "Es steht für uns außer Frage, dass die App die Versorgung von Herz-Kreislauf-Notfällen in unserem Kreis verbessert hat", sagt Ordnungsdezernentin Elisabeth Schwenzow.
Das heißt aber auch: Die andere Hälfte der Rettungsdienstbereiche in Teilen des Rheinlands, Sauerlands, Münsterlands und Ruhrgebiets nutzt bisher keine App-basierte Unterstützung der Rettungskräfte. Dabei wird diese Technik seit Jahren international empfohlen.
App sorgt für Verbesserungen in der Rettungskette
Im ländlichen Kreis Borken haben sich seit der Einführung im Jahr 2021 in der App "Corhelper" mehr als 1.100 Ersthelfende registriert. Bei Anrufen in der Leitstelle werde nun noch gezielter nach den Indizien für einen Herz-Kreislauf-Stillstand gefragt. "Mittlerweile schicken wir lieber zu häufig einen Ersthelfer raus als andersherum", betont der Leiter des Rettungsdienstes, Carsten Thien. So gab es im laufenden Jahr 230 Einsätze mit App-Alarmierung, in mehr als 75 Prozent der Fälle konnten Ersthelfende gefunden werden.
Schwenzow betont: "Es geht nicht nur darum, mehr Menschenleben zu retten, sondern Wiederbelebten auch eine höhere Lebensqualität zu bieten." Tatsächlich trägt das Gehirn schon nach wenigen Minuten ohne Sauerstoff bleibende Schäden davon. "Jede Minute, in der die Sauerstoffversorgung unterbrochen ist, zählt. Je kürzer das Intervall bis zur Versorgung, desto besser", sagt Thien. Auch wenn der Rettungsdienst eingetroffen sei, helfe es in der Praxis sehr, wenn Menschen vor Ort mitanpacken können.
Wie man Ersthelfer werden kann
Je nach Kreis oder kreisfreier Stadt gibt es unterschiedliche Qualifikationen für eine Registrierung als Ersthelfer: Viele begrenzen den Helferkreis auf Menschen mit medizinischem Hintergrund, andere setzen Personen mit Erfahrung in Krisensituationen ein. Aber immer mehr Rettungsdienstbereiche öffnen sich auch für Laien, lehren in Ersthelfer-Schulungen nicht nur den Umgang mit der App, sondern auch, wie Erste Hilfe vor Ort funktioniert. Manchmal reicht schon ein Erste-Hilfe-Schein für eine Registrierung als Ersthelfer.
"Auf die Brust drücken kann im Grunde aber jeder. Ich sage immer: Kaputt machen kann man nicht viel, denn der Mensch stirbt ohne Hilfe in diesem Moment", erklärt Detlef Struck, der Leiter des Rettungsdienstes im Kreis Düren.
So viele App-Anbieter wie in keinem anderen Bundesland
Eines ärgert Struck: Dass in NRW so viele verschiedene Ersthelfer-Apps im Einsatz sind, die nicht untereinander kommunizieren können. Tatsächlich zeigt die bundesweite Datenabfrage des SWR-Datenteams bei allen Rettungsdienstbereichen einen Flickenteppich in NRW: Vier verschiedene Anbieter gibt es in keinem anderen Bundesland. Andere wie Schleswig-Holstein, Brandenburg oder Baden-Württemberg setzen dagegen fast flächendeckend auf eine App. Wie ist das möglich?
Wie es zu dem Flickenteppich in NRW kommt
Für die Anschaffung einer Ersthelfer-App ist jeder Kreis und jede kreisfreie Stadt in NRW selbst zuständig. Sie ist teils mit sechsstelligen Kosten verbunden. "Die Einheitlichkeit, die wir uns auch als Kreise wünschen, scheitert häufig am Ausschreibungszwang", sagt Dezernentin Schwenzow. Das Vergaberecht sieht verpflichtend eine Ausschreibung vor, und, dass das günstigste Angebot den Zuschlag erhält. Manchmal planten die Kreise aber auch aneinander vorbei, sagt sie.
Der Zweckverband Aachen, zu dem neben dem Kreis Düren noch drei weitere Kreise und die Stadt Aachen gehören, hat sich dagegen vor einigen Jahren zusammengeschlossen. Für die Ausschreibung seien so konkrete Anforderungen an eine Ersthelfer-App angesetzt worden, sodass überall die App "Corhelper" den Zuschlag erhielt.
Denn auch unter den Apps gibt es Unterschiede. Ein "Corhelper" kann beispielsweise auch für einen Wochenendausflug oder in der Nähe des Arbeitsplatzes außerhalb seines Heimatkreises unterwegs sein und trotzdem von der Leitstelle alarmiert werden, wenn er sich in der Nähe eines Notfalls befindet. "Ich bin auch schon am Aachener Dom alarmiert worden", sagt Struck aus Düren. Das geht aber nur, weil Aachen ebenfalls "Corhelper"-Gebiet ist. Ist ein Ersthelfer in einem anderen Gebiet unterwegs, kann er nicht alarmiert werden.
Alarmierung endet an der Kreisgrenze
Die App "Mobile Retter" ist bisher von zwölf Kreisen und kreisfreien Städten eingeführt worden und damit die verbreitetste Anwendung. Mit ihr können Ersthelfer nur alarmiert werden, wenn sie sich gerade in dem Kreis befinden, in dem sie sich registriert haben - und wo sie von der Kreisverwaltung freigeschaltet wurden. Wer etwa im Kreis Viersen wohnt, aber im Kreis Kleve arbeitet, muss sich doppelt anmelden, um auch dort Menschenleben zu retten - obwohl beide Kreise auf die "Mobile Retter"-App setzen.
Grund ist offenbar die Frage des Versicherungsschutzes. Wer einen Einsatz als Ersthelfer annimmt, ist in diesem Moment für den Fall eines Wegeunfalls über den Kreis als Verwaltungshelfer versichert. Bei "Corhelper" oder "Katretter" verbleibt der Schutz aber auch in "fremdem" Gebiet beim Kreis, bei dem der Ersthelfende angemeldet ist.
Teilweise gibt es Synergien: In Ostwestfalen wird in den Kreisen Herford und Lippe bei der Registrierung für "Katretter" auch die Teilnahme bei der App "Mobile Retter" für die Kreise Gütersloh und Bielefeld akzeptiert. Trotzdem müssen beide Apps installiert sein.
Struck findet: "Das NRW-Gesundheitsministerium hätte das in die Hand nehmen müssen". Er fragt sich auch: "Wir setzen uns alle fünf Jahre für den Rettungsdienstbedarfsplan mit den Krankenkassen zusammen - warum werden solche Apps nicht von den Krankenkassen finanziert?" Schließlich sei ein unbeschadet Überlebender günstiger als die Langzeitversorgung eines Patienten mit Hirnschaden.
Aktuell setzt sich die in der Notfallrettung etablierte Björn-Steiger-Stiftung für eine gemeinsame Schnittstelle ein - also ein bundesweites Alarm-System, das alle Apps integriert. Von der Landesregierung heißt es auf WDR-Anfrage: "Im Rahmen der derzeit laufenden Novelle des Rettungsgesetzes NRW wird vorgeschlagen, eine Nutzungsmöglichkeit entsprechender Ersthelfer-Apps auch im Gesetz aufzunehmen."
"Es wurde alles Menschenmögliche versucht"
Vier Einsätze hatte Feuerwehrmann Lars Greiner als Ersthelfer in den eineinhalb Jahren seit seiner Registrierung. Retten konnte er bisher niemanden. Für den Mann mit Drogen-Überdosis kam genauso jede Hilfe zu spät wie die Frau mit Lungenerkrankung und einen bereits Stunden vor dem Notruf Verstorbenen. Bei seinem ersten Einsatz gelang es Greiner mit zwei anderen Ersthelfenden und dem Rettungsdienst, einen Mann nach 40 Minuten wiederzubeleben. Doch er starb eine Nacht später im Krankenhaus.
"Man sagt, dass in etwa jeder siebte Mensch mit Herzstillstand gerettet werden kann. Ich warte noch auf mein Ü-Ei mit Figur. Aber sie kommt bestimmt", betont er. Als die Ärzte und Helfer bei Greiners erstem Einsatz den blau angelaufenen Mann reanimierten, schnappte sich Greiner die Ehefrau und versuchte, sich um sie zu kümmern, sie zu beruhigen, auch dafür sind die Ersthelfenden da. "Wenn die Rettungskette zackig funktioniert und die Angehörigen sehen: Es wurde alles Menschenmögliche versucht, hilft das in der Trauer."
Unsere Quellen:
- Datenrecherche des SWR Data Lab
- Interview mit Feuerwehrmann Lars Greiner
- Interview mit Elisabeth Schwenzow (Ordnungsdezernetin) und Carsten Thien (Leiter Rettungsdienst) aus dem Kreis Borken
- Interview mit Deltef Struck (Leiter Rettungsdienst) aus dem Kreis Düren
- ARD-Doku "Notfall Rettung - Wenn die Hilfe versagt"
Über dieses Thema berichten wir im WDR am 17.07.2024 auch im Hörfunk: WDR 5 Morgenecho, ab 6 Uhr.