Etwas unbeholfen steht Günther Habke in seiner Wohnung in Mönchengladbach. Die Frau, der er gerade die Tür geöffnet hat, hat er vorher noch nie gesehen. Aber schon nach wenigen Sätzen kann er die Tränen nicht mehr zurückhalten: "Lassen Sie sich drücken", presst der 63-Jährige hervor - und schon liegen sich beide in den Armen.
Auch die so spontan gedrückte Anja Wulf ist dabei den Tränen nahe. Während er sie gerade zum ersten Mal sieht, kennt sie ihn bereits, war auch schon einmal in seiner Wohnung. Denn die Mitarbeiterin der Feuerwehr Mönchengladbach war eine der Helferinnen, die ihm das Leben gerettet haben, als Habke bewusstlos in seinem Flur lag. Der 63-Jährige war eines Morgens nach dem Brötchenholen in seiner Wohnung zusammengebrochen. Herzinfarkt.
Wenige Minuten entscheiden über Leben und Tod
Ein derartiger Herz-Kreislauf-Stillstand kann jeden treffen - jederzeit und überall. Über Leben und Tod entscheidet dann oft die Zeit, also wie schnell der betroffenen Person geholfen wird. Von jährlich ca. 55.000 Reanimierten überleben laut Deutschem Reanimationsregister nur etwa 7.400. Doch es könnten deutlich mehr sein. Das hat eine umfangreiche Datenabfrage des SWR unter allen Rettungsdienstbereichen in Deutschland ergeben. Orientiert man sich an den Überlebenschancen in den erfolgreichsten Rettungsdienstbereichen, so könnten demnach jährlich bundesweit bis zu 10.000 Menschen gerettet werden.
Das Daten-Team vom SWR hatte bereits im vergangenen Jahr angefangen, die Daten bei den einzelnen Rettungsdienstbereichen anzufragen. Herausgekommen ist eine umfassende, regionale Datengrundlage zum Thema Reanimation mit Daten aus dem Jahr 2022.
Bei Reanimationen muss es schnell(er) gehen
Und wie schaut's dabei in NRW aus? Im bevölkerungsreichsten Bundesland werden bei Rettungseinsätzen zwei sogenannte "Hilfsfristen" vom Landesfachbeirat für den Rettungsdienst empfohlen. Gemeint ist hierbei die Zeit ab Notfallmeldung, in der Retter vor Ort sein sollten. Im städtischen Bereich liegt die Frist bei acht Minuten, auf dem Land bei 12 Minuten. Die Fristen gelten für Notfälle aller Art.
Besonders schnell gehen muss es aber bei Reanimationen. Hier empfehlen medizinische Fachgesellschaften, dass 80 Prozent der Reanimationsfälle innerhalb von acht Minuten vor Ort professionell versorgt werden sollten. Denn ein Herz-Kreislauf-Stillstand schadet vor allem dem Gehirn. Nach drei bis fünf Minuten beginnen bereits die Nervenzellen zu sterben, nach fünf Minuten kann es zu irreparablen Hirnschäden kommen.
Die Datenabfrage unter den Rettungsdienstbereichen in NRW hat nun aber ergeben, dass der empfohlene Wert von acht Minuten im Jahr 2022 oft nicht eingehalten werden konnte.
Nur 11 von 54 Rettungsdienstbereichen in NRW gaben an, dass in über 80 Prozent der Fälle das erste Rettungsmittel innerhalb von acht Minuten am Einsatzort sein konnte. In fünf Rettungsdienstbereichen lag der Wert immerhin zwischen 70 und 79 Prozent, 12 Rettungsdienstbereiche lagen darunter. 26 Rettungsdienstbereiche haben dazu keine Angaben gemacht.
Land liegen keine vollständigen Daten vor
Andere Stellen als die Rettungsdienstbereiche, etwa das Land NRW, können zu den Einsatzzeiten offenbar keine Daten liefern. "Daten zu den Hilfsfristen werden nicht regelhaft erhoben und liegen daher nicht vor", teilte das NRW-Gesundheitsministerium auf Anfrage mit. Die Kreise und kreisfreien Städte wären als Träger des Rettungsdienstes gesetzlich verpflichtet, die flächendeckende Versorgung der Bevölkerung mit Leistungen der Notfallrettung und des Krankentransportes unter Beachtung der Wirtschaftlichkeit sicherzustellen.
In dem Zusammenhang kündigte das Gesundheitsministerium an, die derzeit empfohlenen Hilfsfristen überarbeiten zu wollen. Mit der aktuell laufenden Novelle des Rettungsgesetzes NRW sollen "die rettungsdienstlichen Versorgungsmöglichkeiten zwischen Notfallrettung und Krankentransport ausdifferenziert werden." Das betreffe auch Empfehlungen für entsprechende Planungsfristen. Ein Erlass der neuen Empfehlungen könnte Ende des Jahres erfolgen.
1,5 Millionen Rettungsfahrten in NRW
Die Gründe, warum Rettungskräfte zu spät beim Einsatzort eintreffen, sind vielfältig. Neben der Entfernung zum Einsatzort können auch das Wetter oder Verkehrsbehinderungen eine Rolle spielen. Hinzu kommen jährlich steigende Einsatzzahlen. Laut aktuellen Daten des Landes wurden im Jahr 2022 insgesamt 1,5 Millionen Rettungsfahrten in NRW durchgeführt, acht Prozent mehr als im Vorjahr. "Die jährlichen Steigerungen sind unter anderem auf den demograpfischen Wandel zurückzuführen", erklärt Dr. Christian Hermanns, Medizinjournalist und WDR-Reporter, der selber auch Notarzt ist. "Dadurch haben wir einen verstärkten Bedarf an Personal, das man aber nicht bekommt", so Hermanns weiter. "Und das bedeutet für den Bürger: Je ländlicher er wohnt und je näher er an einer Wache wohnt, die mal für eine Schicht nicht besetzt ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass er einen gesundheitlichen Schaden erleidet."
Land will Bereiche besser verzahnen
"Der Träger des Rettungsdienstes prüft eigenständig regelmäßig die Erfüllung des Sicherstellungsauftrags mit Blick auf Erreichungsgrade und Einsatzzahlen, um ansonsten über eine Anpassung der rettungsdienstlichen Vorhaltung gegenzusteuern", teilte das Gesundheitsministerium mit. Dabei könne es aber nicht das Ziel sein, "dass die Rettungsdienste auf die seit Jahren stetig steigenden Einsatzzahlen mit immer weiteren Rettungsmitteln antworten." Deshalb arbeiten Bund und Land an "umfangreichen, sektorenübergreifenden Reformen zur Notfallversorgung", so das Gesundheitsministerium. Ziel wäre es, alle Patientinnen und Patienten in die für sie richtigen Versorgungsstrukturen im ambulanten, klinischen oder rettungsdienstlichen Bereich zu leiten und die Sektoren insgesamt besser zu verzahnen.
Am Mittwoch verabschiedete das Bundeskabinett den Entwurf zu einer Reform der Notvallversorung.
Wieviele lebend im Krankenhaus ankommen
Wie auch immer die Umstände der Rettung sind - am Ende zählt, ob der Patient oder die Patientin das Krankenhaus lebend erreicht. Auch das hat der SWR in seiner Datenrecherche abgefragt. Grundlage dafür sind statistische Berechnungen und Erwartungswerte des Reanimationsregisters: Konnten mehr Menschen als erwartbar lebend ins Krankenhaus transportiert werden? Oder lag der Wert über dem bundesweiten Durchschnitt? 22 Rettungsdienstbereiche in NRW konnten zumindest eine dieser Fragen mit "Ja" beantworten.
Schlechte Werte im Kreis Borken, Recklinghausen und Wesel
Weil aber nur 89 Rettungsdienstbereiche in ganz Deutschland Angaben hierzu machten, hat der SWR diese Daten mit einer exklusiven Datenauswertung der Barmer Ersatzkasse kombiniert. Deren Institut für Gesundheitssystemforschung hat berechnet, wie viele Patienten das Krankenhaus lebend erreichen sollten.
Kombiniert man die Ansätze, so ergibt sich für NRW: In einem Viertel der Rettungsdienstbereiche sterben mehr Menschen auf dem Weg ins Krankenhaus als statistisch erwartet wäre. In den Kreisen Borken, Recklinghausen und Wesel wurden in den Jahren 2020 bis 2022 deutlich weniger reanimierte Patientinnen und Patienten lebend ins Krankenhaus eingeliefert als statistisch zu erwarten wären.
Mönchengladbach profitiert vom "Pit-Stop-Verfahren"
Wie wichtig hierbei die schnelle Erstversorgung der Patienten und Patientinnen vor Ort ist, weiß auch Marc Deußen. Er ist ärztlicher Leiter des Rettungsdienstes in Mönchengladbach. "Grundsätzlich wird von uns erwartet, dass wir vier von zehn Patienten, die wir reanimieren, zurück ins Leben holen", berichtet der Notfallmediziner - und ergänzt nicht ohne Stolz: "Wir holen fast sechs von zehn zurück." Was läuft da anders in Mönchengladbach?
Bei einem Reanimations-Notfall rückt dort bei Bedarf ein ganzer Trupp der Feuerwehr aus. "Wir treffen uns am Einsatzort und arbeiten dann in einer gewissen Choreografie zusammen, um bestmöglich den Patienten aus der Situation herauszuholen", berichtet Deußen. Er hat das so genannte "Pit-Stop-Verfahren" 2019 mit entwickelt: "Das heißt, der eine ist wie im Boxenstopp für die Reifen zuständig, der eine fürs Betanken und der andere, um den Motor zu checken."
Der "Angriffstrupp", der normalerweise das Feuer löscht, ist in diesem Fall dann für die Herzdruckmassage und die Defibrillation zuständig. Der "Wassertrupp", der normalerweise das Wasser heranschafft, für die Medikamentengabe. "Wichtig ist, dass die einzelnen Leute sich nicht auf den Füßen stehen, dass jeder eine klar definierte Aufgabe, eine eigene Rolle hat", erklärt der Notfallmediziner.
Ersthelfer per App zum Einsatzort
Auch Günther Habke konnten die Mönchengladbacher Einsatzkräfte so reanimieren. Sein Leben verdankt der 63-Jährige aber zuallererst seiner Frau. Sie hatte ihn leblos im Flur gefunden und die ersten Reanimationsversuche unternommen, bis die Rettungskräfte eintrafen.
Die Überbrückungszeit bis zum Eintreffen der professionellen Einsatzkräfte kann wie bei Günther Habke entscheidend sein. Deshalb setzen viele Rettungsdienstbereiche im Notfall auch auf freiwillige Retter, die sich im Fall der Fälle bereits in der Nähe befinden. Per Smartphone-App werden diese Ersthelfer über einen Notfall in ihrer Nähe informiert und können so schnell am Einsatzort sein.
Das Problem dabei: Nicht jeder Kreis setzt auf die Hilfe per App. Zudem gibt es nicht die eine App, die freiwillige Retter im Notfall alarmiert, sondern mehrere, untereinander nicht kompatible Systeme. Deutschland gleicht hier - wie so oft - einem Flickenteppich. Und nicht nur Deutschland: Auch in NRW setzen die Kreise auf unterschiedliche Apps zur Alarmierung, wenn sie denn überhaupt ein System anbieten.
Welcher Rettungsdienstbereich in NRW setzt auf welche App? Wie kann ich selber per App Ersthelfer werden? Und wie schnell sind die Helfer mit dieser App vor Ort? Hier gibt es eine Übersicht:
Wer auch immer die erste Person am Einsatzort ist, muss natürlich wissen, was zu tun ist. Werden notwendige Reanimationsmaßnahmen nicht sofort eingeleitet, kann das Gehirn schon nach wenigen Minuten bleibende Schäden nehmen. Um einen Herz-Kreislauf-Stillstand möglichst schnell zu erkennen, setzen viele Leitstellen bei Anruf deshalb auf eine strukturierte Notruf-Abfrage. Die Leitstellen-Mitarbeiter gehen dabei mit dem Anrufer bestimmte Fragen durch, um möglichst schnell die Art des Notfalls zu ermitteln.
Viele Leitstellen setzen dabei eine Software ein, die die Fragen genau vorgibt ("standardisierte Notrufabfrage"). Bei anderen Systemen können die Fragen von der Leitstelle noch etwas angepasst werden ("strukturierte Notrufabfrage").
Derartige Abfragesysteme sind bei fast allen Leitstellen in NRW im Einsatz - oder zumindest geplant. Nur die Stadt Essen hat zurückgemeldet, keine standardisierte oder strukturierte Notrufabfrage einzusetzen. Der Kreis Unna machte dazu keine Angaben.
"Der Westen zeigt sich mit wenigen roten Flecken, aber trotzdem nicht einheitlich grün", betont Prof. Dr. Jan-Thorsten Gräsner, Mitglied im Organisationskomitee des Deutschen Reanimationsregisters. Der Großteil der Kreise in NRW habe zwar etwas implementiert. Aber: "Hier sollten die Bereiche, die noch rot sind, in der nächsten Zeit von den Ergebnissen der anderen lernen", so Gräsner. "Gerade das Ruhrgebiet hat gute Möglichkeiten." Hier könnten allein durch die räumliche Nähe der Leitstellen die Argumente für und wider sehr schnell ausgetauscht werden.
Andere Bundesländer sind da allerdings schon weiter. Laut bundesweiter SWR-Datenabfrage sind in Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern oder Sachsen strukturierte Notrufabfragen bereits flächendeckend im Einsatz.
Probleme entdecken und beheben
Experten empfehlen strukturierte Notrufabfragen, weil einheitliche Qualitätsstandards die Sicherheit der Patienten erhöhen. Dabei ist Abfrage nicht gleich Abfrage. Es komme ganz wesentlich darauf an, welches System eingesetzt werde, betont Medizinjournalist Christian Hermanns. "Manche Leitstellen scheuen sich noch aus Kostengründen davor, moderne Systeme einzuführen", sagt er. So gibt es etwa bereits selbstlernende Systeme, bei denen jeder neu eingetragene Fall zu einer Verbesserung führt. Auch KI-Systeme könnten bereits schauen, wo ein nächster Einsatz wahrscheinlich werden könnte.
Aber das allein reicht nicht: "Wir messen eigentlich gar nicht was hinten rauskommt", kritisiert Christian Hermanns. "Also war es beispielsweise sinnvoll, dass der Patient den Rettungswagen bekommen hat, oder hätte er auch mit dem Taxi fahren können?"
Dafür müssten Leitstellen ihre Daten auswerten und analysieren - und auch ein Qualitätsmanagementsystem betreiben. Doch das ist in NRW noch lange nicht Standard: 38 Rettungsdienstbereiche haben angegeben, kein Qualitätsmanagementsystem in ihrer Leitstelle zu nutzen.
Und wie kann die Situation in NRW verbessert werden? Notfallmediziner Marc Deußen aus Mönchengladbach würde sich etwa mehr Daten wünschen, die den Erfolg der einzelnen Maßnahmen dokumentieren. So sollte seiner Meinung nach das noch freiwillige Deutsche Reanimationsregister zu einem "Nationalregister" werden. "Es sollte Pflicht werden, dass in Deutschland jede Reanimation dort eingepflegt wird", so Deußen.
Sein in Mönchengladbach erfolgreiches "Pit-Stop-Verfahren" wird sich wohl aber auch ganz freiwillig durchsetzen: In vielen Kreisen in NRW herrsche bereits großes Interesse, berichtet der Mediziner. Und auch aus anderen Teilen Deutschlands - etwa Schwerin - gab es bereits interessierte Nachfragen.
Weitere Ergebnisse der umfangreichen Datenabfrage des SWR gibt es hier:
Unsere Quellen:
- Datenanalyse des SWR Data Lab
- Interview mit Notfallmediziner Marc Deußen
- Interview mit Notarzt und Medizinjournalist Christian Hermanns
- Daten vom NRW-Gesundheitsministerium
- ARD-Doku "Notfall Rettung - Wenn die Hilfe versagt"
Über dieses Thema berichten wir im WDR am 17.7.2024 auch im Hörfunk: WDR 5 Morgenecho, ab 6 Uhr.