Führt ein schnellerer Braunkohleausstieg zu mehr klimaschädlichen Gasen?

Stand: 01.12.2022, 17:44 Uhr

In gut sieben Jahren soll Schluss sein mit der Verstromung der Braunkohle in NRW. Wegen der Energiekrise könnten aber mehr CO2 ausgestoßen werden, warnen Wissenschaftler. Eine Analyse.

Von Tobias ZacherTobias Zacher

Der Zeitpunkt war geschickt gewählt: Am Donnerstag hat die kohlekritische Klimaschutz-Kampagne "Europe Beyond Coal" ein Gutachten zum vorgezogenen Braunkohleausstieg 2030 im Rheinischen Revier öffentlich gemacht. Es ist der Tag, an dem der Bundestag das "Gesetz zur Beschleunigung des Braunkohleausstiegs im Rheinischen Revier" mit der Ampel-Mehrheit in Berlin verabschieden wollte. Kernpunkt des Gesetzes: Das Vorziehen des Kohleausstiegs in Nordrhein-Westfalen vom Jahr 2038 auf das Jahr 2030.

Wieso soll ein früherer Kohleausstieg für mehr Klimagase sorgen?

Das Gutachten, das das Forschungsinstitut "Aurora Energy Research" im Auftrag der Klimaschützer verfasste, zweifelt ein zentrales Versprechen des vorgezogenen Kohleausstiegs an: Nach Berechnungen der Wissenschaftler sorgt das Vorziehen des Braunkohle-Endes vom Jahr 2038 auf das Jahr 2030 nicht für weniger ausgestoßene Treibhausgase - sondern für mehr CO2-Emissionen. Damit ist ein zentrales Versprechen der beiden Grünen-Minister Robert Habeck (Bund) und Mona Neubaur (Land NRW) sowie des Energieriesen RWE in Frage gestellt.

Doch wie kommt es dazu, dass ein Vorziehen des Braunkohleausstiegs angeblich zu mehr Emissionen führt? Schließlich ist die Braunkohle die klimaschädlichste Form der Stromerzeugung, die Deutschland im großen Maßstab nutzt.

Für die Energiesicherheit bleiben zwei Kraftwerksblöcke länger am Netz

Der erste Teil der Antwort hat zu tun mit der aktuellen Energiekrise, ausgelöst durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Um die Energieversorgung zu gewährleisten, hat die Politik ein ganzes Bündel an Maßnahmen ergriffen. Eine davon: Die Braunkohle-Kraftwerksblöcke Neurath D und E im Süden von Grevenbroich sollen länger am Netz bleiben, bis mindestens März 2024. Eigentlich hätten sie Ende 2022 vom Netz gehen sollen - so sah es das Kohleausstiegsgesetz vor, in dem ein endgültiger Austieg aus der Braunkohle für 2038 festgeschrieben war.

Dadurch, dass die beiden Neurath-Blöcke für die Energiesicherheit länger am Netz bleiben sollen, stoßen diese mehr Treibhausgas aus als ursprünglich geplant.

Drei Kraftwerksblöcke sollen früher abgeschaltet werden

Gleichzeitig mit dieser klimaschädlichen Entscheidung haben Habeck und Neubaur aber auch verkündet, dass sie das endgültige Aus für die Kohleverstromung vom Dezember 2038 auf den März 2030 vorziehen. Dadurch müssen die Kraftwerksblöcke Niederaußem K, Neurath F und Neurath G früher aufhören, Kohle zu verbrennen. Das ist der zweite Teil der Antwort.

Beide Maßnahmen - die Längere Laufzeite der zwei Neurath-Blöcke und die kürzere Laufzeit der drei anderen Blöcke - sind im "Gesetz zur Beschleunigung des Braunkohleausstiegs im Rheinischen Revier" festgeschrieben, das am Donnerstag durch den Bundestag sollte.

Als NRW-Klimaschutzministerin Mona Neubaur (Grüne) dieses Vorhaben Anfang Oktober vorstellte, sagte sie mit Blick auf die drei früher abzuschaltenden Kohlekraftwerks-Blöcke: "Wir können so mindestens 280 Millionen Tonnen Braunkohle und etwa genauso viele Tonnen CO2 einsparen." Doch genau das ziehen die Macher der Studie in Zweifel.

Wissenschaftler: Verstromen von Kohle lohnt 2030 ohnehin nicht mehr

Das zentrale Argument der Wissenschaftler von "Aurora Energy Research" lautet so: Bis zum Jahr 2030 wäre das Verbrennen von Braunkohle zur Stromerzeugung ohnehin unprofitabel geworden.

Obwohl RWE bis 2038 hätte Braunkohle verbrennen dürfen: Der Energieriese hätte es nicht getan, weil es sich wirtschaftlich nicht gelohnt hätte, so die Studienautoren. Der gesetzlich festgeschriebene Kohleausstieg 2038, er wäre durch die Mechanismen des Marktes ohnehin zu einem Ausstieg schon circa 2030 geworden.

Verbindet man diese Annahme mit der Tatsache, dass nun zwei Neurath-Blöcke länger laufen dürfen, wird schnell klar: Das "Gesetz zur Beschleunigung des Braunkohleausstiegs im Rheinischen Revier" kann für mehr CO2-Ausstoß sorgen - falls die Prognosen der Wissenschaftler hinsichtlich der Wirtschaftlichkeit zutreffen.

Doch wie zuverlässig sind diese Prognosen?

Aurora: CO2-Preis wird stark steigen

Ihre Aussagen stützen die Autoren des Aurora-Instituts auf eine Modellierung des Strommarkts in Europa, die die erzeugten Strommengen und -preise für die kommenden Jahre vorhersagt. Zugleich wird der "CO2-Preis" berücksichtigt, der in den kommenden Jahren weiter steigen wird. Aktuell liegt er bei politisch festgelegten 30 Euro. 2030 werden diese Preise nicht mehr vorgegeben, sondern per Auktion festgelegt. Aurora prognostiziert für dieses Jahr einen "CO2-Preis" von 91 Euro pro Tonne, den die Kraftwerksbetreiber zahlen müssen.

Durch Berechnung von Erzeugungskosten, CO2-Preis und weiterer Kosten der Kraftwerksbetreiber kommen die Aurora-Autoren zu dem Schluss, dass sich das Verbrennen der Kohle für RWE tatsächlich nicht mehr lohnen könnte. Weil sie am Markt weniger Geld für ihren Strom bekommen, als sie dafür selbst investieren müssen. Dann liegt auch der Schluss nahe, dass das börsennotierte Unternehmen die Kohleverstromung von selbst einstellt, obwohl es die Erlaubnis dafür über 2030 hinaus hätte.

Es könnte so kommen - oder auch nicht

Die Vorhersagen der Studienautoren erscheinen plausibel. Der Strommarkt könnte sich tatsächlich so entwickeln. Doch wenn dieses Krisenjahr eins gelehrt hat, dann dass Annahmen über die Entwicklung des Energiemarkts niemals mit Gewissheiten gleichgesetzt werden dürfen. Es könnte also auch anders kommen - sodass die Kohleverstromung über 2030 hinaus profitabel ist.

RWE beispielsweise geht davon aus. Auf den Daten des Konzerns basieren die entsprechenden Berechnungen des Bundes- und des Landes-Klimaschutzministeriums, mit denen sie das "Gesetz zur Beschleunigung des Braunkohleausstiegs im Rheinischen Revier" hergeleitet haben.

Wirtschaftsministerium kritisiert Berechnungen

Entsprechend fällt die Reaktion des Energie- und Klimaschutzministeriums von Mona Neubaur (Grüne) aus: Demnach sei es "denkbar, dass Braunkohlekraftwerke etwa 2030 nicht mehr wirtschaftlich sind und freiwillig früher stillgelegt werden. Es kann aber auch ganz anders kommen", schreibt das Ministerium in einer schriftlichen Stellungnahme. Und es kritisiert die Studie: "Letztlich kombiniert Aurora in seinem Energiemarktszenario zwei für den Braunkohleeinsatz nachteilige Faktoren, nämlich einen niedrigen Gaspreis" einerseits, der zu einem niedrigen Strompreis führe. Andererseits erwarte Aurora in Zukunft im Vergleich zum Bundeswirtschaftsministerium eine geringere Stromnachfrage für die kommenden Jahre.

"Sich jetzt zurückzulehnen und auf einen freiwilligen Ausstieg und den Markt zu vertrauen, wäre eine grob fahrlässige Strategie", so das Neubaur-Ministerium.

Ähnlich argumentierte der Kohlekonzern RWE: "Gerade die aktuelle Situation zeigt, wie knapp die Kapazität im europäischen Energiesystem ist und wie volatil die Energiepreise sind. Zu glauben, der Kohleausstieg finde quasi von alleine, rein marktgetrieben statt, ist gerade vor dem Hintergrund der aktuellen energiewirtschaftlichen Entwicklung unrealistisch", teilte das Unternehmen auf WDR-Anfrage mit.