Aufnahme einer jungen Krankenpflegerin mit einem älteren Patienten

Pflegekrise: Diese fünf Probleme muss NRW jetzt anpacken

Stand: 14.03.2024, 13:51 Uhr

Experten haben im Landtag eindrucksvoll unterstrichen, wie groß die Pflegekrise in NRW aktuell ist. Und der schwarz-grünen Landesregierung einen dicken Aufgaben-Katalog mitgegeben.

Von Sabine TentaSabine Tenta

Auf Antrag der SPD fand im Gesundheitsausschuss des NRW-Landtags eine Anhörung mit Sachverständigen zur Pflegekrise statt. Eingeladen waren die Pflegekammer NRW, die Ruhrgebietskonferenz Pflege, der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste e.V. (BPA), der Caritasverband Düsseldorf und die Sozial-Holding der Stadt Mönchengladbach.

Die Expertinnen und Experten schilderten sehr konkret die Probleme - und Optionen, wie die Landesregierung gegensteuern kann.

Hier die fünf wichtigsten Aufgabengebiete:

1. Insolvenzen im Pflegebereich

Das Problem: Für die Pflegeeinrichtungen sind in den letzten Jahren die Kosten massiv gestiegen: Inflation, Energiekrise oder Tariferhöhungen bei den Löhnen, um nur einige Stichworte zu nennen. Bernhard Rappenhöner, NRW-Landesvorsitzender des BPA rechnet vor, dass allein in Nordrhein-Westfalen zwischen Juli 2022 und September 2023 aufgrund von Insolvenzen 2.154 Pflegeplätze weggefallen sind. "Wir sind in einer tiefen, tiefen Krise", bestätigte auch Ulrich Christofczik von der Ruhrgebietskonferenz Pflege.

Das könnte helfen: Immer wieder dringend angemahnt von den Expertinnen und Experten wurden Abschlagszahlungen für Pflegeeinrichtungen. Das ist eine Art Vorschuss auf Grundlage einer groben Rechnung, der später auf den Cent-Betrag genau verrechnet wird. Anna Gockel-Gerber vom Caritasverband Düsseldorf wünschte sich auch die Möglichkeit, dass Einrichtungen Rücklagen bilden dürfen, um Insolvenzen zu vermeiden.

Ein Schutzschirm, wie er immer wieder von der SPD gefordert wird, wurde ebenfalls als sinnvoll angesehen, insbesondere zur Überbrückung von Liquiditätsproblemen. Aber viel wichtiger als "eine Geldspritze, egal in welcher Höhe", sei eine systemische Veränderung, meinte Ulrich Christofczik.

2. Bürokratieabbau

Das Problem: "Ein Drittel der Zeit unserer Fachkräfte geht in administrative Aufgaben", rechnet Ulrich Christofczik vor. Dazu gehörten auch die Kontrollen im Betrieb: "Ich könnte Ihnen einen Katalog der Prüfbehörden machen, die täglich in unserer Einrichtung sind und Personal binden." Hier wünscht er sich mehr Vertrauen in die Pflege. Und Bernhard Rappenhöner erklärt, ein Besuch einer Fachkraft im Rahmen einer Tagespflege "produziert fünf Rechnungen".

"Es kann nicht sein, dass die Dokumentationen bald besser gepflegt sind als die Menschen." Ulrich Christofczik

Das könnte helfen: Ganz klar: Bürokratieabbau. Besonders unbeliebt war bei den Expertinnen und Experten die "APG-DVO", also die Durchführungsverordnung zum Alten- und Pflegegesetz. Sie wurde schlicht als "sowas von schrecklich" charakterisiert. Wer sich einen Eindruck verschaffen will, findet hier den Wortlaut. Auch das WTG und die WTG-DVO wurden genannt, also das Wohn- und Teilhabegesetz und die dazugehörige Durchführungsverordnung.

Sandra Postel von der Pflegekammer NRW mahnte zudem eine stärkere Digitalisierung der Behörden an. Sie schilderte das Beispiel einer Geflüchteten. Die junge Mutter habe sich für den Pflegeberuf interessiert. Sie sei jedoch von der Sachbearbeiterin einer Behörde ausgebremst worden mit der Begründung: Sie schaffe das nicht und sollte als Mutter doch besser für ihr Kind da sein. Postels Hoffnung ist, dass eine Digitalisierung "die Macht einer Sachbearbeiterin" durch ein objektiveres Entscheidungsverfahren ersetzt.

3. Ausbildung von Fachkräften

Das Problem: Die Corona-Pandemie war für Schülerinnen und Schüler mit vielen Defiziten verbunden, etwa durch Distanzunterricht und die fehlenden Sozialkontakte. "Jetzt kommen die jungen Menschen in die Ausbildung, die echte Corona-Verlierer sind", stellte Sandra Postel fest. Sie ist Präsidentin der Pflegekammer NRW. Ulrich Christofczik nannte die Zahl von 30 Prozent Abbrechern in der Ausbildung.

Helmut Wallrafen, Geschäftsführer der Sozial-Holding Mönchengladbach, sieht die unterschiedlichen Lehrpläne in den 16 Bundesländern als hinderlich an. Wer seine Ausbildung beispielsweise in Hessen beginne, könne darum nicht einfach ins zweite Lehrjahr in NRW einsteigen.

"In Deutschland gibt es 28 verschiedene Curricula - das ist Steinzeit!" Helmut Wallrafen, Geschäftsführer Sozial-Holding Mönchengladbach

Das könnte helfen: Ein Ausbau der Schulsozialarbeit in der Ausbildung könne helfen, die vielfältigen Probleme der jungen Menschen aufzufangen, da war sich die Sachverständigen-Runde einig. Auch einheitliche Curricula wurden gefordert. Helmut Wallrafen beklagte, dass es in NRW sogar mit zwei Landschaftsverbänden innerhalb eines Bundeslands Unterschiede gebe.

4. Anwerbung ausländischer Fachkräfte

Das Problem: Helmut Wallrafen schilderte seine Erfahrungen mit der Anwerbung spanischer Fachkräfte. In Valencia habe man arbeitslose Pflegekräfte gewonnen, ihnen bereits in Spanien Deutschkurse geboten. Denn der Spracherwerb sei nicht nur wichtig für den Kontakt mit den Pflegenden und die gesellschaftliche Integration, sondern auch "eine Frage der Menschenwürde", so Wallrafen. Wer hier arbeite, sollte auch sagen können "Chef, das geht so nicht". Neben den Bezirksregierungen sind viele weitere Stellen involviert. Ulrich Christofczik sprach von einem "Flickenteppich, der zermürbt".

"Die Bezirksregierungen haben einen Riesenstau an Anerkennungsverfahren." Sabine Postel, Pflegekammer NRW

Hinzukomme die Gefahr des "Personalkannibalismus": Fachkräfte würden von Krankenhäusern abgeworben, auch weil sie dort mehr verdienen könnten.

Problematisch seien auch die unterschiedlichen Ausbildungsniveaus. In Spanien haben Pflegefachkräfte studiert, erklärt Helmut Wallrafen, "da reden die Pflegekräfte auf Augenhöhe mit den Ärzten". Doch bis zur Anerkennung könnten diese studierten spanischen Fachkräfte in Deutschland nur Hilfstätigkeiten ausführen - ein frustrierender Einstieg in das neue Berufsleben in Deutschland.

Hinzu kommt die Wohnungsnot. Anna Gockel-Gerber vom Caritasverband Düsseldorf schilderte, dass sie zwar Fachkräfte gewinnen könnten, "die aber hier keine Wohnung finden". Kein Wunder also, dass über die Hälfte der zugewanderten Fachkräfte nach einem Jahr wieder abwandern und Deutschland den Rücken kehren.

Das könnte helfen: Schnellere und einheitlichere Anerkennungsverfahren, erschwinglicher Wohnraum für Zugewanderte, bessere gesellschaftliche Integration, mehr Sprachkurse.

5. Pflege als Auffangbecken

Das Problem: Mehrfach wurden die sogenannten "blutigen Entlassungen" aus dem Krankenhaus beklagt. Also die Verkürzung der Verweildauer von Patientinnen und Patienten in Krankenhäusern, die durch die Pflege aufgefangen werden müsse.

Ulrich Christofczik beklagte, dass die von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) geplante Krankenhaus-Reform ohne die Pflege gedacht werde. Sie sieht unter anderem vor, dass mehr ambulante Behandlungen stationäre Aufenthalte ersetzen sollen.

Das könnte helfen: Auch wenn die Krankenhaus-Reform auf Bundesebene spielt, wünschen sich die Sachverständigen, dass NRW seinen Einfluss geltend macht. Sabine Postel kritisierte: "Landes- und Bundesebene kommunizieren aktuell nicht gut genug miteinander."

Fazit

Zum Ende der knapp zweistündigen Anhörung appellierten die Sachverständigen nochmal eindringlich an die Abgeordneten, das Problem des Pflegenotstands anzugehen. Die Hebel, die in NRW in Gang gesetzt werden könnten, müssten betätigt werden. Und da, wo der Bund oder andere Stellen verantwortlich sind, müsse die Landesregierung ihren Einfluss geltend machen - sei es über eine Bundesratsinitiative oder über Gespräche mit verschiedenen Institutionen.

Denn in dem Punkt waren sich alle Sachverständige einig: Kriegen wir die Pflegekrise nicht in den Griff, drohe ein großer volkswirtschaftlicher Schaden. Die Defizite würden am Ende von pflegenden Angehörigen aufgefangen, die dringend als Arbeitskräfte benötigt würden.