Polizeibeamte kehren nach einen Bombenanschlag am 19.01.2001 auf ein Lebensmittelgeschäft in Kölner Probsteigasse Scherben zusammen

Die Zwickauer Zelle in NRW - Teil 1

"Keinerlei Hinweise auf Rechtsextremismus"

Stand: 01.11.2012, 00:01 Uhr

Am 4. November 2011 enttarnte sich der "Nationalsozialistische Untergrund" (NSU) selbst. Die sogenannte Zwickauer Terrorzelle soll jahrelang unerkannt gebombt und gemordet haben - drei Mal in NRW. Warum haben die Behörden die Fälle nicht aufgeklärt? Teil 1: Der Bombenanschlag in der Kölner Probsteigasse im Jahr 2001.

Von Dominik Reinle

Es ist kurz nach 17.30 Uhr, als ein schlanker, blonder Mann am 21. Dezember 2000 ein kleines Lebensmittelgeschäft an der Kölner Probsteigasse betritt. Der deutsch-iranische Ladeninhaber schätzt dessen Alter auf etwa 25 Jahre. Der vermeintliche Kunde hat einen weihnachtlichen Geschenkkorb dabei, in dem sich bereits eine Christstollendose befindet. Er legt noch eine Flasche Whisky und ein paar Kekse aus dem Laden dazu. An der Kasse behauptet er jedoch, kein Geld dabei zu haben. Er gehe schnell nach Hause und sei gleich wieder da. Den Präsentkorb lässt er stehen, wie es im Buch "Die Zelle" von Christian Fuchs und John Goetz heißt.

Als der Unbekannte jedoch nicht wiederkommt, stellt der Ladenbesitzer den Weidenkorb nach ein paar Tagen in ein Hinterzimmer, das von der sechsköpfigen Familie als Aufenthaltsraum genutzt wird. Dort bleibt der Korb über die Feiertage stehen. Am 19. Januar 2001 hat die 19-jährige Tochter frühmorgens die Aufgabe, im hinteren Raum Brötchen zu schmieren. Als sie damit gegen sieben Uhr fertig ist, fällt ihr Blick auf die rote Christstollendose. Sie öffnet sie, sieht eine blaue Gasflasche und schließt den Deckel wieder. Doch es ist zu spät: Die Bombe explodiert. Die 19-Jährige, die sich kurz vor der Detonation gebückt hat, wird am Oberkörper und im Gesicht schwer verbrannt. In einer Spezialklinik muss ihr Haut transplantiert werden.

Opfer-Familie durchleuchtet

Einen Tag nach dem Anschlag, zu dem es kein Bekennerschreiben gibt, meldet die Nachrichtenagentur DDP, die Polizei ermittle in alle Richtungen: "Derzeit schließe man einen ausländerfeindlichen Hintergrund der Tat ebenso wenig aus wie Motive aus dem persönlichen Umfeld der Opfer." Doch weil ein rechtsextremer Hintergrund angeblich nicht erkennbar ist, vermutet die Polizei zunächst einen Racheakt aus dem Rotlicht-Milieu und danach finanzielle Schwierigkeiten mit einem türkischen Bauunternehmer. "Zeitweise verdächtigt sie einen jungen Mann mit spanisch klingendem Namen", schreiben der NDR-Redakteur John Goetz und der Journalist Christian Fuchs in ihrem Buch. Auch eine mögliche Vergeltung des iranischen Geheimdienstes wird geprüft. Doch keine der Vermutungen bestätigt sich. Keine fünf Monate nach der Tat stellt die Kölner Staatsanwaltschaft die Ermittlungen am 13. Juni 2001 vorläufig ein.

Das sei nicht ungewöhnlich, gibt der ehemalige Polizeibeamte Edgar Mittler im Juli 2012 bei seiner Vernehmung vor dem NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages zu Protokoll. Der mittlerweile pensionierte Kriminalhauptkommissar Mittler hat 2001 die Ermittlungskommission "Probst" geleitet. Üblicherweise stelle man Ermittlungen ein, wenn keine Hinweise mehr vorhanden seien, so Mittler. "Und die Spuren in diesem Fall waren abgearbeitet." Fingerabdrücke habe es keine gegeben. Der Täter habe wohl Handschuhe getragen.

"Warum scheidet eine Variante komplett aus?"

Sebastian Edathy (SPD), Vorsitzender des NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag

Ausschussvorsitzender Sebastian Edathy (SPD)

Aus den Ermittlungsakten geht hervor, dass die Kölner Polizei noch am Tattag mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz Kontakt aufnimmt. Dabei wird allerdings lediglich "um Erkenntnismitteilung zu den Personen" der Opferfamilie gebeten, nicht aber nach Hinweisen auf ähnliche Anschläge mit sogenannt fremdenfeindlichem Hintergrund gefragt. Darüber wundert sich Sebastian Edathy, SPD-Abgeordneter und Vorsitzender des NSU-Untersuchungsausschusses. Er fragt den Zeugen Mittler, was denn konkret gemacht worden sei, um einen möglichen rechtsextremen Hintergrund auszuschließen. "Da es darauf keinerlei Hinweise gab, ist auch nichts weiter unternommen worden", antwortet der frühere Beamte. Zumal auch der geschädigte Geschäftsinhaber überzeugt gewesen sei, "dass auf keinen Fall ein ausländerfeindlicher Hintergrund hinter diesem Anschlag stecken könnte."

"Was wären denn Ihrer Erfahrung nach Hinweise gewesen, die auf einen rechtsextremistischen Hintergrund hingedeutet hätten", fragt die CDU-Abgeordnete Elisabeth Winkelmeier-Becker nach - "wenn man mal davon ausgeht, dass ein Bekennerschreiben nun nicht gerade üblich ist in rechtsextremistischen Kreisen". Mittlers Antwort: "Zum Beispiel wenn jetzt an der Hauswand mal irgendwo ein Hakenkreuz aufgetaucht wäre." Aber wenn weder Vermutungen wie "Rotlichtmilieu" oder "iranischer Geheimdienst" einen weiterbringen, ergänzt die SPD-Abgeordnete Eva Högl: "Warum kommt dann gar nicht in Betracht, mal in die rechtsextremistische Szene zu gucken?" Das sei schlicht unerklärlich. "Wir fragen uns einfach hier alle miteinander: Warum scheidet eine Variante komplett aus in der Ermittlungsarbeit?"

Trio war bereits in einer Zentraldatei erfasst

Dabei hätte es für die Fahnder durchaus eine Möglichkeit gegeben, den Tätern auf die Spur zu kommen: mit einer breitangelegten Recherche in der Zentraldatei "Tatmittelmeldedienst für Spreng- und Brandvorrichtungen" (TMD), die beim BKA angesiedelt ist. Dort sind nämlich Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe verzeichnet, sie sind in den 1990er Jahren im Zusammenhang mit Sprengstoff-Delikten aufgefallen. Kurz bevor in Jena in einer von Böhnhardt angemieteten Garage vier TNT-Rohrbomben gefunden wurden, ist das Trio im Januar 1998 untergetaucht. Bei der TMD-Abfrage wurde aber offenbar nur nach Druckgasflaschen als Sprengmittel gesucht, nicht nach TNT.

Wäre es nicht naheliegend gewesen, bei der Recherche "speziell auch auf bekannte Tatverdächtige mit rechtsextremistischem Hintergrund zu achten, wenn eine ausländische Familie das Opfer ist?", fragt der CDU-Abgeordnete Clemens Binninger. Mittlers Antwort: "Man hätte da nachforschen sollen, ja, auf jeden Fall."

Fahndungsbilder der Mitglieder der Terrorgruppe NSU: Beate Zschaepe (v. l. ), Uwe Boehnhardt und Uwe Mundlos

Fahndungsbilder der Mitglieder der Terrorgruppe NSU

Die Behörden in NRW hätten von Februar 1998 an aber auch ohne TMD-Abfrage vom NSU-Trio Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe wissen können. Die Thüringer Polizei veröffentlicht damals einen Fahndungsaufruf. Zudem informiert das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz die Verfassungsschutzämter des Bundes und der anderen Länder über die Untergetauchten und den Vorwurf gegen sie. "Im Jahr 2001 – zumindest nach unseren bisherigen Erkenntnissen – müssten in allen Polizeidienststellen der Bundesrepublik noch die Fahndungsplakate nach den drei uns heute namentlich Bekannten gehangen haben", stellt Petra Pau, Abgeordnete der Linksfraktion im Bundestag, fest – und fragt Mittler, ob ihm die bundesweite Fahndung damals gegenwärtig gewesen sei. Seine Antwort: "Überhaupt nicht." Weshalb er "nie etwas davon gehört" habe, könne er sich nicht erklären, so Mittler: "Ich war selbst überrascht, als ich das jetzt dann wahrgenommen habe."

Nichtwissen trotz "Erfahrungsaustausch"

Die Unkenntnis von Mittler wirkt umso erstaunlicher, wenn er gleichzeitig beteuert, der Austausch zwischen den Behörden finde "ständig" statt: "Wir Sprengstoffermittler treffen uns normalerweise jedes Jahr auf Bundesebene", so Mittler, "und machen da einen ausführlichen Erfahrungsaustausch." Jeder stelle dabei seine Fälle vor. "Man spricht mit den Kollegen vom LKA, man spricht mit den Kollegen vom BKA." Es gebe auch viele persönliche Kontakte.

Trotz dieser angeblich guten Zusammenarbeit kann sich Mittler aber nicht daran erinnern, andere Sprengstoff-Experten konkret auf den Anschlag angesprochen zu haben. Als die SPD-Abgeordnete Eva Högl fragt, ob auch der Fall "Probsteigasse" bei dem bundesweiten Treffen vorgestellt worden sei, antwortet Mittler: "Das weiß ich nicht. Ich glaube es eher nicht." Er als Ermittlungsleiter sei "gar nicht mehr so in diese Arbeit eingebunden" gewesen, sondern habe sich mehr um die Dienstelle kümmern müssen.

Mangelnde Zusammenarbeit?

Auch innerhalb der Kölner Polizei scheint der Informationsfluss nicht geklappt zu haben. Mittler erklärt vor dem NSU-Untersuchungsausschuss, üblicherweise werde nach einem Sprengstoff-Anschlag der Polizeiliche Staatsschutz über den Fall informiert. Das sei auch in diesem Fall geschehen: "Der Staatsschutz hat von mir eine Zweitakte bekommen", so Mittler – "mit der Bitte um Übernahme des Verfahrens, wenn denn politische Hintergründe erkennbar seien". Solche Erkenntnisse habe es aber nicht gegeben.

Auf die Nachfrage der Abgeordneten Högl, ob er denn nachvollzogen habe, was genau der Staatsschutz geprüft habe, antwortet Mittler: "Nein." Als Högl wissen will, ob er als Vor-Ort-Ermittler nicht auch in einen Dialog eintrete und sich dafür interessiere, wie seine Ergebnisse weiter bearbeitet würden, sagt Mittler: "Also, der Dialog ist da." Aber er wisse nicht, mit welchen Behörden der Staatsschutz verkehre. Das wiederum ist für Högl unverständlich: Es sei für sie "schwer nachvollziehbar, dass man sich da nicht enger austauscht."

Auch LKA und Verfassungsschützer ahnungslos

Der Zeuge Hartwig Moeller sitzt der Sitzung des 2. NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestages im Bundestag in Berlin.

Ex-Verfassungsschützer Hartwig Möller

Allerdings ist nicht nur die Kölner Polizei im Dunkeln getappt. "Dass der Sprengstoffanschlag in der Probsteigasse in Köln am 19. Januar 2001 einen politischen oder gar rechtsterroristischen Hintergrund hatte, ist dem Landeskriminalamt erst nach der Auswertung der Ende 2011 auftretenden Bekenner-DVD klar geworden", sagt der ehemalige NRW-Verfassungsschutzchef Hartwig Möller vor dem NSU-Untersuchungsausschuss im September 2012. "Vor diesem Zeitpunkt hat niemand, auch ich nicht, eine Verfassungsschutz-Relevanz des Anschlages gesehen."

Aktueller Ermittlungsstand

Auf die Frage von WDR.de nach dem neuesten Stand der Untersuchungen verweisen sowohl Polizei als auch Verfassungsschutz an die Generalbundesanwaltschaft, die am 11. November 2011 alle Ermittlungen übernommen hat. Von dort sind allerdings ebenfalls keine Informationen zu erhalten. Der "NSU-Verfahrenskomplex" sei noch nicht abgeschlossen.

Auf die Frage, ob bei den Ermittlungen Fehler gemacht wurden und daraus disziplinarische Konsequenzen gezogen worden sind, antwortet die Generalsbundesanwaltschaft: "Die Bewertung der Tätigkeit anderer Behörden obliegt ihr nicht." Zu etwaigen Maßnahmen anderer Behörden könne keine Auskunft erteilt werden.