Diese Nachrichten machen Hoffnung: Der bundesweite Inzidenzwert sinkt, täglich werden mehr als eine Million Menschen geimpft, ein Impfstoff für Kinder ist in Aussicht.
Der Blick auf den Sommer stimmt optimistisch. Trotzdem müssen wir vorsichtig sein, sagt SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach - denn Neuinfektionen bei Kindern und U-60-Jährigen können die Lage wieder verschlechtern.
WDR: Herr Lauterbach, die Corona-Fallzahlen sinken derzeit in einigen Regionen von NRW. Im Rheinisch-Bergischen Kreis etwa fiel der Inzidenzwert innerhalb von zwei Wochen sogar von 223 auf heute 89,7. Haben wir die dritte Welle im Griff?
Karl Lauterbach: Wir haben sie gestoppt, aber noch nicht besiegt. Ich gehe davon aus, dass ab Mitte/Ende Mai die Fallzahlen deutlich sinken werden. Dann können wir sagen, wir haben die dritte Welle besiegt.
WDR: Spüren wir jetzt die Wirkung der Kontaktbeschränkungen – oder schon einen deutlichen Impfeffekt?
Lauterbach: Der Impfeffekt macht sich bei den Über-60-Jährigen bemerkbar. Dort ist die Inzidenz trotz dritter Welle nicht überproportional gestiegen. Und er stabilisiert die Zahl der Krankenhauseinweisungen. Aber man darf den Impfeffekt nicht überschätzen: Bei den 70- bis 80-Jährigen sind bisher weniger als 35 Prozent geimpft.
WDR: Das RKI sieht die dritte Corona-Welle zwar als "abgebremst", weist aber darauf hin, dass die Infektionszahlen bei Menschen unter 60 und vor allem bei Kindern zunehmen. Wird dieser Trend zurzeit unterschätzt?
Lauterbach: Das ist tatsächlich ein großes Problem. Wenn die Zahlen bei Kindern und Jugendlichen in den nächsten Wochen steigen sollten, könnte die dritte Welle wieder losgehen. Deshalb müssen wir da sehr vorsichtig sein.
Aber ich glaube, wir haben jetzt eine gute Kombination von Maßnahmen ergriffen: Durch die Notbremse haben wir verhindert, dass zu früh geöffnet wird; durch das doppelte Testen in den Schulen in Kombination mit Wechselunterricht haben wir eine Möglichkeit, zu verhindern, dass dort schlimmste Infektionsketten ausbrechen. Zusammen mit dem Testen in den Betrieben und den abendlichen Ausgangsbeschränkungen haben wir ein gutes Gesamtpaket am Start, das normalerweise reichen müsste, um die dritte Welle in den Griff zu bekommen.
WDR: Die NRW-Landesregierung lockert bereits ab Montag für vollständig Geimpfte und auch Genesene und greift damit einer bundesweiten Verordnung vor. Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen für diese Personen werden aber nicht aufgehoben. Wäre das nicht angebracht?
Lauterbach: Ich finde es falsch, dass sich hier erneut eine Landesregierung versucht, im Alleingang zu profilieren. Das ist zermürbend – die Menschen wollen einheitliche Regeln. Wir werden in dieser Woche im Bund die Rückgabe von Rechten an Geimpfte diskutieren und kommen dann mit einer guten Lösung, die durch Wissenschaftler und den gesamten politischen Sachverstand der Länder vorgetragen wird. Ich verstehe nicht, warum so knapp, bevor wir das tun, erneut eine Einzellösung probiert wird.
WDR: Müssten Ausgangsbeschränkungen für Durchgeimpfte nicht aufgehoben werden?
Lauterbach: Tatsächlich ist es schwer, die Ausgangsbeschränkungen für vollständig Geimpfte zu begründen – weil von ihnen ja keine Gefahr in großem Umfang mehr ausgeht. Deshalb wird das auch das wahrscheinliche Ergebnis der Beratungen sein. Aber es bringt auch Probleme mit sich, denn dann muss sehr viel stärker als jetzt kontrolliert werden. Deshalb muss man prüfen, ob dieser Kontrollaufwand gerechtfertigt ist. Das werden die Expertenanhörungen im Bundestag ergeben.
WDR: Einzelne Städte mit hohen Infektionszahlen weisen neuerdings die Inzidenzen für einzelne Stadtteile aus. Ist das sinnvoll?
Lauterbach: Sehr sinnvoll. In diesen Stadtteilen, wo die Infektionszahlen sehr hoch sind, sollte zusätzlicher Impfstoff zur Verfügung stehen, der durch mobile Impfteams angeboten wird. Auch sollte dort die Impfpriorisierung aufgehoben werden, damit schneller geimpft werden kann. Mit dem Standardvorgehen bekommen wir die Brennpunkte sonst nicht in den Griff, dort würde die Lage noch lange problematisch bleiben. Wenn man dort aber mehr Impfstoff anbietet – besonders auch den von Johnson&Johnson, der nur einmal verimpft werden muss – kann man auf Erfolge hoffen.
WDR: Haben Sie Vermutungen, welche Faktoren zu diesen Corona-Brennpunkten in einzelnen Stadtteilen führen?
Lauterbach: Ohne konkrete Zahlen verbieten sich Spekulationen darüber. Es kommt an solchen Brennpunkten vieles zusammen: Dort leben mehr Menschen, die nicht im Homeoffice arbeiten können oder auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen sind. Viele leben auf engerem Raum zusammen oder in größeren Familien. Oder es bestehen Sprachbarrieren für die von uns zur Verfügung gestellten Informationen. Außerdem gibt es in diesen Brennpunkten meist weniger Hausärzte, sodass das Impfstoffangebot dort unterdurchschnittlich ist.
WDR: Der Blick auf unsere Nachbarländer ist derzeit etwas verwirrend: Die Niederlande kündigen Lockerungen an, in Frankreich will Präsident Macron zur "französischen Lebenskunst zurückfinden" und massiv lockern - obwohl in beiden Ländern die Infektionszahlen viel höher sind als bei uns. Was ist da los?
Lauterbach: Ob das dort funktioniert und sicher ist, muss man sehen. Wir machen immer wieder den Fehler, dass wir sagen, im Ausland klappt das doch schon, während dort gerade erst der Versuch läuft. Es kann durchaus sein, dass dort gerade Fehler gemacht werden. Daher warne ich davor, den wissenschaftlichen Weg zu verlassen.
WDR: Anfang des Jahres waren Sie ziemlich zuversichtlich, dass wir uns auf einen tollen Sommer freuen könnten, wenn alles gut läuft. Sind Sie immer noch so optimistisch, oder könnte zum Beispiel die indische Mutante da noch reingrätschen?
Lauterbach: Ich bleibe optimistisch: Der Sommer wird gut sein. Die indische Mutante wird das nicht gefährden. Sie ist etwas ansteckender, aber nicht mehr als die britische Mutante. Sie wird uns nicht vor unlösbare Probleme stellen.
Das Interview führte Nina Magoley.