Steigende Inzidenz, mehr Intensivpatienten - sind Lockerungen eine gute Idee?

Stand: 28.10.2021, 20:41 Uhr

Die Corona-Inzidenz steigt sprunghaft auf 130 – für Virologen und Intensivmediziner ein alarmierendes Signal. Trotzdem soll es bald mehr Lockerungen geben. Wie soll das gehen?

Von Dominik Reinle

Die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz ist von Mittwoch auf Donnerstag erneut sprunghaft angestiegen - von 118 auf 130. Auch in NRW schnellte die Zahl der Neuinfektionen nach oben - wenn auch auf niedrigem Niveau. Im Land liegt die Inzidenz am Donnerstag laut RKI bei 91,7. Gestern betrug der Wert noch 79,2.

Wer die Kurve für das Infektionsgeschehen im Herbst 2020 mit der aktuellen Lage vergleicht, könnte meinen, dass er sich im Jahr verirrt hat. Vor ziemlich genau einem Jahr hat Kanzlerin Angela Merkel (CDU) den "Lockdown light" verkündet. Als dieser am 2. November 2020 begann, war die Sieben-Tage-Inzidenz in NRW innerhalb eines Monats von 21,6 am 2. Oktober auf 151,8 gestiegen.

Gesamte Grafik anzeigen

Zahl der Intensivpatienten wächst

"Mir macht im Moment Sorge, dass der Anstieg der Neuinfektionen zusammenfällt mit einer schon sehr hohen Belegung auf Intensivstationen von derzeit ungefähr 1.600 Patienten, die zum großen Teil schon länger dort liegen", sagte Virologin Sandra Ciesek in der aktuellen Folge des NDR-Podcasts "Coronavirus-Update". "Das führt dazu, dass wir im Vergleich zum letzten Jahr sogar schlechter dastehen."

Die Zahl der mit Covid-19-Fällen belegten Betten auf den Intensivstationen wächst aktuell mit etwa 15 Prozent pro Woche, Tendenz steigend. Zugleich sehe man allerdings, so Ciesek, "dass im Vergleich zu vor einem Jahr deutlich weniger Patienten an der Infektion sterben, wenn sie geimpft sind".

Auch der Chef der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß, sagte dem "Redaktionsnetzwerk Deutschland", dass binnen einer Woche deutlich mehr Corona-Patienten in Kliniken eingewiesen worden seien. "Wenn diese Entwicklung anhält, haben wir schon in zwei Wochen wieder 3.000 Patienten auf Intensivstation." Das könnten die Kliniken zwar leisten, jedoch nicht ohne Einschnitte im Regelbetrieb.

Weniger Intensivbetten nutzbar

Zur Einordnung: Zum Höhepunkt der Pandemie - das war dieses Jahr im Januar - wurden rund 5.700 Corona-Erkrankte intensivmedizinisch behandelt. Der Unterschied zu Januar: Damals war noch so gut wie niemand voll geimpft - heute sind 70 Prozent der Menschen in NRW immunisiert.

Allerdings hat im selben Zeitraum auch die Zahl der Intensivbetten abgenommen. Mit dem Stand vom 20. Oktober wurden vom DIVI-Intensivregister rund 22.200 betreibbare Intensivbetten in Deutschland gemeldet. Am 1. Januar waren es noch 26.400, also ein Verlust seit Jahresbeginn von mehr als 4.000 Intensivbetten. Sie können wegen Personalmangel nicht genutzt werden können.

Lockerungen im Winter?

In den Koalitionsgesprächen der möglichen Ampelregierung wird auch über eine Lockerung der Corona-Maßnahmen diskutiert. Die Ampel-Parteien wollen die epidemische Lage von nationaler Tragweite am 25. November auslaufen lassen. Es soll für den Winter allerdings eine Übergangsregelung geben - bis am 20. März alle Corona-Maßnahmen enden sollen.

Das finden nicht alle gut: Virologe Martin Stürmer hält die Debatte über die Beendigung der epidemischen Lage für verfrüht, wie er am Mittwoch im ZDF-"heute journal" sagte. Man verlasse sich auf die Zahl der Geimpften, so Stürmer, aber man müsse "sehr vorsichtig sein". Zumal viele der Risikopatienten schon bald eine Auffrischung ihres Impfschutzes bräuchten. Erneute Lockdowns wolle er derzeit nicht ausschließen.

Auch Karsten Woelke, Lungenfacharzt am Allgemeinen Krankenhaus in Viersen, ist dafür, die epidemische Lage zeitlich begrenzt weiter laufen zu lassen. Dem WDR sagte er am Donnerstag, er schaue mit Sorge auf die nächsten Wochen und befürchte, dass Krankenhäuser wieder an Kapazitätsgrenzen kommen und andere Eingriffe verschoben werden müssen.

Maskenpflicht in NRW-Schulen

Besonders hoch ist das Infektionsgeschehen laut RKI derzeit bei den Fünf- bis 19-Jährigen. Trotzdem hat das NRW-Schulministerium am Donnerstag entschieden, dass Schüler:innen ab Dienstag an ihren Plätzen keine Masken mehr tragen müssen. An den Schulen in NRW gebe es keinen übermäßigen Anstieg des Infektionsgeschehens.

Bereits vor der Entscheidung gab es viel Kritik. Auch die Landesschülervertretung NRW sieht die Pläne mit Blick auf die jüngeren, ungeimpften Schüler skeptisch.

Gesamte Grafik anzeigen

Wenig Bereitschaft bei Ungeimpften

In dieser Gemengelage haben die Ampel-Parteien angekündigt, die Impfquote erhöhen zu wollen. Es sollen mehr mobile Impfteams eingesetzt und mit einem Expertengremium soll erarbeitet werden, wie man Impfkritische und Unentschlossene von einer Impfung überzeugen kann.

Das dürfte allerdings nicht einfach sein. Bei der bisher größten Befragung von Ungeimpften durch das Meinungsforschungsinstitut Forsa im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums gaben zwei Drittel (65 Prozent) der rund 3.000 Teilnehmenden an, sich "auf keinen Fall" in den nächsten zwei Monaten impfen zu lassen. 23 Prozent tendieren zu "eher nein".

Was bleibt dann noch?

Einen erneuten Lockdown wird es wohl nicht mehr geben. Das hat die wahrscheinliche Ampel-Regierung schon angekündigt. Deswegen bleibt es wohl bei diesen Stellschrauben:

  • Impfkampagne: Diejenigen Erwachsenen überzeugen, die noch nicht geimpft sind - auch wenn das aufwendig ist.
  • Booster-Impfung: Möglichst schnell für all diejenigen Auffrischungsimpfungen, die es besonders brauchen. Die Ständige Impfkommission empfiehlt allen Menschen ab 70 eine Auffrischungsimpfung und allen, mit schwachem Immunsystem - und auch alle denen, die mit Johnsson und Johnsson geimpft wurden.
  • Unter Zwölfjährige: Kinderärzte hoffen, dass es bald eine Zulassung des Biontech-Impfstoffs für die Fünf- bis Elfjährigen gibt. Die europäische Arzneimittelbehörde EMA hatte am Mittwoch angekündigt, möglichst noch vor Weihnachten zu entscheiden, ob sie eine solche Empfehlung ausspricht.
  • Masken: "Wir alle raten dringend, Vorsichtsmaßnahmen weiter einzuhalten", sagte Intensivmediziner Uwe Janssen vom St.-Antonius-Hospital in Eschweiler am Donnerstag dem WDR. "Die Masken sind unsere große Hilfe auch bei den Geimpften und Genesenen, die auch durchaus zu Virenträgern werden können, wie wir das im Klinikalltag erleben."