Expertenrat für Strategiewechsel bei Corona-Maßnahmen

Stand: 09.06.2022, 09:25 Uhr

Der Corona-Expertenrat der Bundesregierung hat sich mit Blick auf eine mögliche neue Corona-Welle im Herbst für einen Strategiewechsel bei den Schutzmaßnahmen ausgesprochen.

Vom bisherigen Ansatz der Eindämmung solle zu einem Ansatz des Schutzes vulnerabler Gruppen und der Abmilderung schwerer Erkrankungen übergegangen werden. Voraussetzung sei, dass keine neuen gefährlichen Virusvarianten auftauchten und die Krankheitslast dies zulasse.

Der Rat drängt Bund und Länder außerdem dazu, sich früh und umfassend auf die Bekämpfung neuer Infektionswellen im Herbst und Winter vorzubereiten. "Eine vorausschauende Vorbereitung mit kurzen Reaktionszeiten auf veränderte Infektionslagen reduziert die pandemiebedingten (Sekundär-)Schäden und hat die höchste Effektivität, um die Morbidität und Mortalität zu verringern", heißt es in einer umfangreichen Stellungnahme des Gremiums, die am Mittwoch veröffentlicht wurde.

Kein weiterer Versuch für eine allgemeine Impfpflicht

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) machte am Abend klar, dass die allgemeine Impfpflicht vom Tisch ist: "Einen weiteren Anlauf für die allgemeinen Impfpfllicht im deutschen Bundestag wird es nicht geben", sagte er dem WDR. Die Regierung rechne damit, noch einmal bessere Impfstoffe zu bekommen und somit auch besser auf Omikron-Varianten vorbereitet zu sein.

Für den Herbst und Winter nennt der Expertenrat drei mögliche Szenarien:

In einem "Basismodell" wird angenommen, dass die Zahl der Infektionserkrankungen steigt. "Trotz der moderaten Covid-19-Belastung der Intensivmedizin könnten die Arbeitsausfälle erneut flächendeckende Maßnahmen des Übertragungsschutzes (Masken und Abstand in Innenräumen), aber auch Maßnahmen der Kontaktreduktion nach regionaler Maßgabe erforderlich machen", heißt es dort.

Bei einem Negativszenario könnte eine sinkende Immunwirkung aber mit gefährlicheren Corona-Varianten zusammentreffen, so dass auch vollständig Geimpfte einen schweren Krankheitsverlauf haben könnten. Dann würde das Gesundheitssystem erneut durch Covid-19-Fälle auf den Intensiv- und Normalstationen stark belastet. In diesem Fall könnten nötige Schutzmaßnahmen wie Maskenpflicht und Abstandsgebot erst im Frühjahr 2023 zurückgefahren werden.

Im günstigsten Szenario seien neue Varianten weniger gefährlich, so dass Infektionsschutzmaßnahmen "nicht mehr oder nur für den Schutz von Risikopersonen notwendig" seien.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) bescheinigte dem Expertenrat "exzellente Arbeit" und erklärte: "Auf alle Szenarien müssen und werden wir vorbereitet sein: mit angepassten Test-, Impf- und Behandlungsstrategien sowie mit einem soliden gesetzlichen Rahmen."

Janosch Dahmen: Datenerhebung muss verbessert werden

Im WDR lobte der gesundheitspolitische Sprecher von B'90/Die Grünen, Janosch Dahmen, am Donnerstagmorgen die Arbeit des Expertenrats. Mit den neuen Prognosen und Handlungsempfehlungen für Bund und Länder sei eine Grundlage geschaffen worden, sich besser und früher als bisher auf neue Infektionswellen vorzubereiten. Allerdings müsse vorher noch einiges bei der Datenerhebung verbessert werden: "Es geht darum, dass wir die Daten zur Belastung im Gesundheitswesen in den Krankenhäusern besser erheben und zentral zusammenführen. Das muss jetzt sehr schnell kommen."

Nächste Corona-Welle: Wie Sie sich am besten schützen

Noch immer gibt es zahlreiche Neuinfektionen und auch Todesfälle. Gesundheits-Expertinnen und -Experten schließen nicht aus, dass die Pandemie im Herbst noch einmal richtig Fahrt aufnehmen könnte. Was heißt das? Was raten die Experten?

Wie kann sich jeder selbst vorbereiten?

Aktuell sind die Omikron-Varianten BA.4 und BA.5 auf dem Vormarsch. Virologe Stürmer ordnete sie im WDR-Interview vom Krankheitsverlauf so ein wie alle Omikron-Varianten bisher auch, also eher harmlos. Aber: Ganz wichtig sei, "dass man die Impfung auf dem aktuellen Stand hält", so der Virologe Martin Stürmer von der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Wie lauten denn da die Empfehlungen?

Sprechen Sie in jedem Fall mit Ihrer Hausärztin oder Ihrem Hausarzt. Der aktuelle Stand ist laut Ständiger Impfkommision (Stiko) folgender:

Vier Impfungen:

  • Für Menschen ab 70 Jahren
  • Für Bewohnerinnen, Bewohner und Betreute in Einrichtungen der Pflege sowie für Personen mit einem Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf in Einrichtungen der Eingliederungshilfe.
  • Menschen ab fünf Jahren mit Immunschwäche.
  • Beschäftigte in medizinischen Einrichtungen und Pflegeeinrichtungen (insbesondere bei direktem Kontakt zu Patienten und Bewohnern).

Drei Impfungen: Für alle ab zwölf Jahren und Kinder mit Vorerkrankungen.

Eine Impfung: Für gesunde Kinder zwischen fünf und elf Jahren.

Wie lange bin ich nach einer Impfung oder Infektion gerade für die neue Variante gut geschützt?

Ein Grund dafür, die Impfungen auf dem aktuellen Stand zu halten, sind auch die Forschungsergebnisse, die die Stiko in der letzten Aktualisierung der Impfempfehlung zitiert. Laut diesen hat sich die Wirksamkeit der Impfung durch die Omikron-Variante "deutlich reduziert".

Demnach liegt der Schutz vor einer symptomatischen Infektion mehr als sechs Monate nach der zweiten Impfung nur noch bei 0 bis 13 Prozent. Durch eine dritte Impfung steigt dieser Schutz jedoch wieder auf 56 bis 69 Prozent. Gegen eine schwere Erkrankung schützt die sogenannte erste Booster-Impfung sogar mit bis zu 100-prozentiger Wahrscheinlichkeit.

Bei vielen ist ja die letzte Booster-Impfung jetzt mehr als sechs Monate her: Impfen oder nicht?

Laut der Stiko-Empfehlung sind die Menschen am besten geschützt, die "drei immunologische Ereignisse" hinter sich haben - dazu gehören Impfungen und Infektionen. "Die chronologische Abfolge der SARS-CoV-2-Infektion beziehungsweise Covid-19-Impfungen ist dabei wahrscheinlich unerheblich", heißt es in der Impfempfehlung.

Wer also zwei Mal geimpft ist und im vergangenen Winter eine Corona-Infektion durchgemacht hat, ist gut geschützt. Das heißt aber nicht, dass er sich nicht noch einmal mit Covid-19 infizieren kann. Durch die Impfungen ist die Gefahr aber sehr gering, schwer zu erkranken.

Eine solche Infektion wäre dann laut dem Immunologen Prof. Carsten Watzl von der TU Dortmund quasi die vierte Impfung mit dem angepassten Impfstoff - nämlich dem Virus selbst.

Das bedeutet aber auch: Wer bislang nur zwei Mal geimpft wurde und noch keine Coronainfektion hatte, sollte sich ein drittes Mal impfen lassen. Das Gleiche gilt für Ungeimpfte die schon zwei Mal mit Corona infiziert waren.

Besteht Grund zur Sorge?

Nein. "Die Impfung oder auch der Genesenenstatus schützen uns vor schweren Verläufen, insofern müssen wir da keine Panik schieben", sagt Stürmer. Allerdings seien die Varianten deutlich effektiver in der Übertragung als BA.2, so dass uns sogar im Sommer eine Welle drohen könnte. Und: "Wenn zu viele Menschen gleichzeitig krank werden, ist zu befürchten, dass wir infrastrukturell möglicherweise ein paar Einbußen bekommen, und wenn das im Gesundheitssystem passiert, dann kann es nochmal kritisch werden."