Menschen und Fahrradständer

Nach Überfall auf Obdachlosen: "Immer aufpassen, was hinter dir passiert"

Stand: 04.08.2024, 12:50 Uhr

Zehn Tage nach einem brutalen Überfall in Bochum auf einen Rumänen ohne Wohnsitz sprechen obdachlose Menschen über ihre Erfahrungen mit Gewalt.

Von Johannes HoppeJohannes Hoppe

Birgit Hofmann sitzt auf der anderen Straßenseite des Bochumer Hauptbahnhofs. Mit roter Kappe und Weste verkauft sie das Straßenmagazin des Bodo e.V. Sie sagt über sich, sie sei obdachlos und immer noch geschockt von dem Angriff.

Ende Juli hatte am Bahnhof ein 21-Jähriger massiv auf den obdachlosen 38-jährigen Mann eingetreten. Er starb wenige Tage später an seinen schweren Verletzungen. Der mutmaßliche Täter hatte sein Opfer im Schlaf überrascht.

Ich fühle mich ohnmächtig. Es ist unverständlich warum wir Obdachlosen so behandelt werden. Birgit Hofman, Verkäuferin Straßenmagazin Bodo
Frau mit roter Kappe

Birgit Hofmann hat auch schon Erfahrungen mit Gewalt gemacht.

Auch Birgit wurde schon brutal angegriffen, erzählt sie. Anderthalb Jahre lang hat sie selbst gegenüber des Hauptbahnhofs vor einer Fahrschule unter einem Abdach geschlafen.

Da sei sie einmal zusammengetreten worden, von Jugendlichen. Warum weiß Birgit nicht. Sie sei im Krankenhaus wach geworden ohne zu wissen, was passiert sei.

Obdachlose sind eine Gemeinschaft - meistens

Wohnungsloser nach Attacke in Bochum gestorben

WDR Studios NRW 31.07.2024 00:26 Min. Verfügbar bis 04.08.2026 WDR Online


Birgit sagt, sie kannte den getöteten Mann. Zwar hätte sie keinen engen Kontakt zu ihm gehabt, sie hätte ihn aber öfter bei einer Essensausgabe getroffen. Man kenne sich halt.

Einer, der ihn etwas besser kannte, ist Totti. Er sagt, er habe eine ganze Menge Zeit mit ihm verbracht, oft in Zusammenhang mit Alkohol.

Totti und vier Männer, vermutlich auch Obdachlose, sitzen links neben dem Haupteingang des Bahnhofs und trinken. Es gibt Wodka, Bier und Kräuterschnaps, als ein Mitarbeiter einer Bäckerei tütenweise belegte Brötchen vom Tag verschenkt. Beim Essen erzählt der 58-Jährige: der Mann aus Rumänien hieß Silvio.

Ich bin traurig. Aber Angst habe ich nicht, hier zu schlafen. Ich bin schon so lange hier draußen, da ist es mir auch egal. Ist echt egal. Totti, 58 Jahre, obdachlos
Sitzender Mann mit Kappe

Totti ist 58 Jahre alt und sagt, er lebe seit 25 Jahren auf der Straße. Abends ist er oft neben dem Haupteingang mit Menschen aus seiner Gemeinschaft zusammen.

Seit 25 Jahren mache er selbst schon "Platte", sagt Totti, mit einem kurzem Besuch im Knast. Jeder Polizist kenne ihn und er kenne fast jeden obdachlosen Menschen rund um den Hauptbahnhof und in der Stadt. Man achte aufeinander. Anders gehe es nicht.

Du musst immer aufpassen, was hinter dir passiert. Darum sitzen wir auch alle mit dem Rücken zur Wand. Totti, lebt seit 25 Jahren auf der Straße

Angriffe hat Totti auch schon erlebt. Als er am Hinterausgang des Hauptbahnhofs in einem Schlafsack gelegen hatte, hätten ihn Unbekannte brutal getreten. Wehren konnte er sich nicht. Er lag ja im geschlossenen Schlafsack, sagt er. Zur Polizei sei Totti nicht gegangen. Das ergebe keinen Sinn. Der oder die Täter würden ohnehin nicht gefasst.

Gewalt gehört zur Obdachlosigkeit

Buddenbergplatz im Dunkeln

Am Hinterausgang des Hauptbahnhofs, dem Buddenbergplatz, wurde Totti schon zweimal zusammen getreten. Warum, weiß er nicht.

Trotzdem schläft Totti weiter draußen. Einerseits, weil er es drinnen nach so langer Zeit auf der Straße nicht aushält. Andererseits, weil es im Hauptbahnhof teilweise gefährlicher sei. Das habe die Attacke auf "Silvio" wieder einmal bestätigt.

Zwei Meter entfernt von den Schließfächern im Hauptbahnhof Bochum, dort wo der 21-jähriger Mann mit nigerianischer Staatsangehörigkeit in der Nacht des 26. Juli 2024 wahrscheinlich ohne Grund lange und brutal auf den 38-jährigen Rumänen eingetreten hatte, steht eine Bank.

Schließfächer

Vor den Schließfächern hatte der 38-jährige Rumäne geschlafen als er brutal zusammengetreten wurde, unter anderem auf dem Kopf. Tage später starb er im Krankenhaus an seinen lebensgefährlichen Verletzungen.

Auf der hat Andreas drei Monate übernachtet. Der Mann trägt eine Brille, Jeans und ein dunkelblaues T-Shirt. Er möchte nicht fotografiert werden. Auch er ist über die Tat schockiert.

Es tut mir leid. Aber ich bin froh, dass es mir nicht passiert ist. Es hätte mir aber passieren können. Andreas, schlief monatelang neben dem Tatort

Auch der fast 60-jährige Andreas sei schon beleidigt, angespuckt und getreten worden. Bei einem Angriff hätten Security und die Polizei Schlimmeres verhindert.

Angriffe oft nicht angezeigt

Menschen schlafen auf dem Boden

Links neben dem Haupteingang sitzen oder schlafen fast täglich obdachlose Menschen. Sie fühlen sich teilweise sicherer als drinnen.

Gewalt gegen obdachlose Menschen gibt es in zwei Formen, das berichtet Alexandra Gehrhardt. Sie arbeitet für den Bodo e.V., einen Verein, der obdachlosen Menschen hilft, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Einmal gebe es Gewalt untereinander, zum Beispiel wegen Konkurrenz um knappe Ressourcen, wie Tabak, Alkohol oder Essen. Und eben von Außenstehenden. Gehrhardt vermutet, dass dahinter unterschiedlichste Motive stecken. Sozialdarwinismus nennt Gehrhardt ein häufiges Tatmotiv.

Gemeint ist damit die Abwertung von obdachlosen, bettelnden, sichtbar armen Menschen als weniger wert, als angeblich unnütz für die Gesellschaft, die eben auch in Gewalt gegen schwächere Gruppen resultiert. Alexandra Gehrhardt, Redakteurin beim Straßenmagazin Bodo

Diese Einstellung sei weit verbreitet. Das große Problem sei, dass sich die Obdachlosen der Gewalt nicht entziehen könnten, weil sie sich im öffentlichen Raum aufhalten und deswegen besonders schutzlos seien. Sehr oft würden Angriffe auch gar nicht bei der Polizei angezeigt und würden erst viel später auffallen, wenn die Betroffenen davon erzählen. Nur eine eigene Wohnung könne vor solcher Gewalt schützen.

Haftbefehl wegen Mordes

Dem mutmaßlichen Mörder von "Silvio" droht eine lebenslange Haftstrafe. Kurz nach der Tat wurde der 21-Jährige aus Lünen im Kreis Unna auf dem Bahnsteig von der Polizei festgenommen. Er sitzt seitdem in Untersuchungshaft und wartet auf eine Anklage wegen Mordes. Warum er so brutal auf den 38-jährigen Mann eingetreten hat, ist immer noch unklar.

Unsere Quellen:

  • WDR-Reporter vor Ort
  • Gespräche mit obdachlosen Menschen am Bochumer Hauptbahnhof
  • Bodo e.V.
  • Polizei Bochum
  • Staatsanwaltschaft Bochum