Eine Person liegt in einem Schlafsack auf einem Bürgersteig

Kriminalfälle aus NRW: Warum Obdachlose zur Zielscheibe werden

Solingen | Verbrechen

Stand: 29.07.2024, 17:00 Uhr

In Solingen wird aus einem Raub brutaler Mord. Ein Obdachloser wird absichtlich als Opfer ausgewählt. Warum werden Obdachlose immer wieder Ziel von Gewalt? Eine Kriminalwissenschaftlerin gibt Antworten.

Von Wolfram Lumpe

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Der Fall Roland H.

2010 wird Roland H. brutal ermordet. Der 52-Jährige lebt in Solingen auf der Straße. Zwei Männer wollen ihn zunächst ausrauben. Am Ende eines regelrechten Gewalt-Exzesses ist der Obdachlose tot. Roland H. stirbt durch 18 Messerstiche. Der 23-jährige Angeklagte wird wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Sein Mittäter bekommt wegen geringer Schuld eine einjährige Bewährungsstrafe. Den ganzen Fall gibt es bei WDR Lokalzeit MordOrte.

Klar ist: Der Fall aus dem Jahr 2010 ist kein veralteter Einzelfall. Neun Obdachlose sterben allein 2023 in NRW nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. Warum werden diese Menschen immer wieder zu Gewaltopfern? Kriminalwissenschaftlerin Monika Pientka hat sich mit diesen Fragen beschäftigt.

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Warum Obdachlose?

Lokalzeit: Blicken wir auf ähnliche Verbrechen in NRW: 2023 in Horn-Bad Meinberg stirbt ein Obdachloser nach dem Angriff zweier Jugendlicher. Die Täter sind 15 und 16 Jahre alt. In Moers stirbt Anfang Juli ein Obdachloser, wieder sind die Täter 15 und 17 Jahre alt. Und das sind nur aktuelle Beispiele. Es scheint, als ob die Täter häufig zu zweit, männlich und jung sind und sehr brutal vorgehen. Die Opfer hingegen sind geradezu wehrlos. Wie kommt es immer wieder zu dieser Konstellation?

Monika Pientka: Wir kennen aus der Kriminologie diesen Begriff der Hasskriminalität, der "Hate Crimes". Was wir bei den Überfällen auf Obdachlose sehen, passt genau in dieses Konzept. Oft spielt Alkohol eine Rolle. Und dann kommt dazu, dass da so eine Grundwut ist, auf alles und jeden. Die schreiben die Täter gar nicht konkret jemandem zu. Die ist eher allgemein. Der Obdachlose wird als Opfer gesucht, weil er eben verfügbar ist und leicht zu überwältigen scheint. Denn gerade in der Hasskriminalität müssen wir immer wieder feststellen, dass die Fälle sich dadurch auszeichnen, dass das Opfer aus einer Gruppe gewählt wird, die vermeintlich minderwertig ist. Es erscheint weniger wehrhaft.

Dr. Monika Pientka im Portrait.

Dr. Monika Pientka ist Kriminalwissenschaftlerin

Lokalzeit: Die Täter töten Roland H. mit einer unglaublichen Gewalt. Wie kann es soweit kommen?

Pientka: Wir sprechen dann von einem "Übertöten". Das heißt, es wird deutlich mehr getan, als notwendig wäre, um das Opfer wirklich zu töten. Und 18 Messerstiche – das ist ja schon eine unglaubliche Zahl. Etwas klinkt sich aus und es wird mit blinder Wut und blindem Hass weiter zugestochen. Häufig kommt es dann noch zu anderen Handlungen, die das Opfer auf verschiedene Weise erniedrigen.

Lokalzeit: In Köln wurde 2016 ein Obdachloser mit Schlafplatz in Dom-Nähe erschlagen und anschließend mit Benzin übergossen und angezündet. 2024 in Dortmund misslingt der Versuch, eine 72 Jahre alte Obdachlose anzuzünden. Gehen die Täter da noch einen Schritt weiter?

Pientka: In der Tat, ja. Der Täter sucht offensichtlich die physische Nähe des Opfers. Während der Tat sind beide Auge in Auge, anders als würde er zum Beispiel sein Gegenüber erschießen. Die Solinger Tat aus dem Jahr 2010 Tat war spontan, aber beim Anzünden muss ich die Tat ja regelrecht vorbereiten. Unter Umständen kommt da noch ein weiteres Mordmotiv zu anderen dazu: die Mordlust.

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"Wut auf alles"

Lokalzeit: Sie haben es "Grundwut" genannt. Der Täter im Solinger Fall sprach vor Gericht von einer "Wut auf alles". Woher kommt die?

Pientka: Die Wut kommt zum Beispiel aus fehlender Bindung in der Kindheit, aus fehlendem familiärem Rückhalt. Sie entsteht aus mangelnder Bildung und vielen anderen Dingen. Und dann liegt da ein schlafender Obdachloser. Der Täter glaubt, das sei jetzt die Gelegenheit für ihn, seine Wut auszuleben. Das Schlimme daran ist, dass sich die Täter häufig selbst darüber nicht im Klaren sind, dass das so ist. Hate Crime oder Vorurteilskriminalität hat genau da ihren Kern.

Lokalzeit: In dem Solinger Fall kommt nach der Wut plötzlich eine Art Glücksgefühl. Der 23-jährige Täter sagte nach dem Mord zu seinem Mittäter: "Ich wollte immer schon mal wissen, wie das ist und fand das super. Schau hier: Ich zittere nicht mal." Was sagt Ihnen das?

Pientka: Ich könnte mir vorstellen, dass nach dem Töten des Opfers sein Adrenalin und Cortisol noch sehr hoch waren. Das heißt, er stand komplett unter Stress, unter Spannung und unter dem Eindruck des eigenen Handelns. Das versucht er dann als seine, wie soll ich sagen, "ruhige" Entscheidung darzustellen. Im Laufe der Zeit kann ich mir vorstellen, dass ihm klar geworden ist, dass es eine schlechte Entscheidung war.

Lokalzeit: Schaut man auf die bundesweiten Gewalttaten gegen Obdachlose, so fällt eins auf: Die Täter werden immer jünger. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Pientka: Es ist in diesem Bereich nicht anders, als bei anderen Verbrechen. Insbesondere junge Männer sind heute mit 15 so weit, wie es frühere Generationen vielleicht mit 20 waren. Dazu kommt auch hier der Einfluss der Sozialen Medien. Da sieht man viel, was man auch selbst anstellen kann. Im schlimmsten Fall, möchte man es auch ausprobieren. Kinder wuchsen zu früheren Zeiten auch behüteter auf.