Sexueller Missbrauch im Bistum Münster - Jahrzehnte der Vertuschung

Stand: 10.06.2022, 06:00 Uhr

Im Bistum Münster wurde ein pädophiler Priester in 43 Jahren 14 mal versetzt, zweimal strafrechtlich verurteilt - und nie gestoppt. Dieser Fall steht sinnbildlich für das Wegschauen und das bewusste Vertuschen sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche.

Von Selina Bölle

Ein Junge rennt auf einer kirchlichen Ferienfreizeit aus dem Zelt von Heinz Pottbäcker und ruft: "Der Kaplan hat mich angefasst." Betreuer hören es, Küchenfrauen hören es. In den 43 Jahren, in denen er im Bistum Münster als Priester und Seelsorger arbeitet, wissen viele Bescheid. Darüber, dass er Kinder in seine Wohnung einlädt, sie anfasst, sie sexuell missbraucht. 21 Fälle sind bestätigt, die Dunkelziffer der Jungen und Mädchen, die er auf dem Gewissen hat, ist vermutlich mindestens doppelt so hoch.

Sexueller Missbrauch wird vertuscht, es wird weggeschaut, er wird versetzt

Wie kann es sein, dass das Bistum Münster trotz zweier Strafverfahren nie über eine Suspendierung nachdenkt oder den Priester wenigstens aus der Gemeindearbeit abzieht? Darauf gibt es keine befriedigende Antwort. Aber wie das System der Vertuschung funktioniert, das haben unabhängige Wissenschaftler in den vergangenen drei Jahren recherchiert. Der Fall Pottbäcker schockiert und er zeigt, wie die katholische Kirche über Jahrzehnte mit ihren Tätern umgegangen ist.

Mit 27 Jahren wird Heinz Pottbäcker 1964 zum Priester geweiht. Nach nur einem Jahr als Kaplan die erste Versetzung. In der Begründung steht auch, dass der Kaplan oft Kinder auf sein Zimmer holt. Er wird nach Waltrop versetzt. Hier ist er sehr beliebt, besonders bei den Jugendlichen. Betroffene erzählen heute, dass der Kaplan anders ist als die anderen Geistlichen. Er ist jung, spielt Gitarre, fährt Käfer und nimmt die Kinder ernst. Er lädt sie in seine Wohnung ein, sie hören Schallplatten und machen Musik.

Er nimmt sie auf den Schoß, berührt Jungen im Genitalbereich

Immer wieder kommt es bei den Besuchen zu Berührungen und Übergriffen. Im Jahr 1967 wird Pottbäcker angezeigt wegen sexuellen Missbrauchs. Die Staatsanwaltschaft ermittelt und Pottbäcker gesteht. Bis zum Urteil verschwindet er in einem Kloster. Hier hätte sein grauenhaftes Wirken zu Ende sein können. Aber die Staatsanwaltschaft setzt die neunmonatige Haftstrafe nur zur Bewährung aus. Offenbar fürchten weder die Richter noch das Bistum, dass er sich wieder an Kindern vergehen könnte.

Trotz Verurteilung arbeitet er weiter mit Jugendlichen

Nur einen Monat nach dem Urteil beginnt der 31-jährige Kaplan seine neue Stelle in Bockum-Hövel. Der Missbrauch geht weiter. Beim Nachhilfeunterricht, in seinem Auto, auf Freizeiten. Bei einer Fahrt in die Skifreizeit baut Pottbäcker sogar einen Unfall, der wahrscheinliche Grund: Ein Junge saß auf seinem Schoß.

Das Bistum reagiert, jedoch nicht mit einem Verfahren oder dem Abzug aus der Jugendarbeit. Nein, der Kaplan wird weiterversetzt, diesmal nach Rhede, ohne dass der neue vorgesetzte Pfarrer von seiner Vorgeschichte erfährt. Auch hier ist er bei den Jugendlichen sehr beliebt. Auch hier missbraucht er ihr Vertrauen in mindestens elf Fällen. Ein Vater meldet den Missbrauch an seinen Söhnen, schnell wird Pottbäcker abgezogen.

Psychologe glaubt, die pädophile Neigung könne man heilen

Statt einer Meldung an die Staatanwaltschaft setzt das Bistum Münster auf Therapie. Auflagen oder Kontrollen: Fehlanzeige. Der Therapeut ist Christ, er behandelt in den 70er Jahren viele Geistliche mit speziellen Neigungen oder Problemen. Schließlich bescheinigt er, Pottbäcker könne zurück in den Pfarrdienst. Das Bistum gibt ihm 1981 sogar eine eigene Pfarrstelle in Recklinghausen und lässt ihm freie Hand. Nur zwei Jahre später zeigen ihn Eltern aus der Gemeinde an. Er hatte drei Jungen missbraucht. Aus nicht nachvollziehbaren Gründen stuft das Gericht die Taten als "minderschwer" ein. Es gibt kein öffentliches Verfahren, keine Auflagen. Lediglich 12.500 Mark Geldstrafe.

Pottbäcker unterschreibt eine Verzichtserklärung für den Dienst als Pfarrer, arbeitet im Bistumsarchiv. Aber nach fünf Jahren holt ihn das Bistum zurück und setzt ihn als Seelsorger im Krankenhaus ein. Die Auflage, sich von Kindern fernzuhalten, ist symbolisch und wird nicht kontrolliert. Eine Schwester meldet, dass Kinderfahrräder vor seiner Wohnung stehen. Wieder wird er versetzt, ein letztes Mal, in ein Krankenhaus in Neuenkirchen. Auch dort bekommt er bald Besuch von Jungen. Mit 58 Jahren wird Pottbäcker in den Ruhestand versetzt. Er bezieht eine Wohnung in Münster und verstirbt 2007. Vor der Kirche muss er sich bis zu seinem Tod nicht für seine Verbrechen verantworten.