Missbrauch im Bistum Münster: "Alles, was man sich vorstellen kann, ist geschehen"

Stand: 14.06.2022, 15:57 Uhr

Das Bistum Münster hat am Montag eine Studie zu sexualisierter Gewalt über acht Jahrzehnte veröffentlicht. Ein Betroffener erzählt dem WDR, wie Bischöfe nicht verhindert haben, dass er als Zehnjähriger zum Missbrauchsopfer wurde.

Von Christina Zühlke

Martin Schmitz wirkt überraschend gefasst, dafür dass er an einem Ort steht, an dem ihm großes Leid zugefügt wurde. Er steht vor einer Kirche in Rhede, im westlichen Münsterland. Jahrelang hat Schmitz einen großen Bogen um diesen Ort gemacht. Doch mittlerweile, nach vielen Jahren Therapie, sagt er, kann er hier stehen und über das reden, was ein Priester ihm Anfang der 70er Jahre angetan hat.

Ich war gerne Messdiener

Martin Schmitz vor einer Kirche in Rhede

Martin Schmitz fordert Aufklärung

"Also ich bin zehn Jahre alt gewesen, als der Missbrauch begann", sagt Martin Schmitz mit fester Stimme. "Ich war gerne Messdiener." Der Priester sei beliebt gewesen, ein Kumpeltyp. Aber dann habe er ihn umarmt, seine Hand in die Hose des Jungen gesteckt. "Ich wusste damit nicht umzugehen. Aber zuhause hätte ich da nichts von erzählen können. Da hätte es bestenfalls geheißen, so was macht ein Priester nicht und es hätte was in den Nacken gegeben."

Der Priester überredete die Eltern des kleinen Martin, ihn mit auf Ferienfreizeit zu schicken. Die Taten nahmen zu und wurden massiver: "Ich musste ihn befriedigen, ich musste mich vor ihm ausziehen. Es geht hin bis zu Vergewaltigung, also alles, was man sich, sich vorstellen kann, ist auch eben geschehen."

Der Täter ist ein Intensivtäter

Porträt von Thomas Großbölting

Historiker und Studienleiter Thomas Großbölting

Der Täter, Heinz Pottbäcker, spielt in der Münsteraner Missbrauchsstudie eine Hauptrolle, sagt der Leiter der Studie, der Geschichtsprofessor Thomas Großbölting. Pottbäcker sei ein Intensivtäter, der immer wieder von Seiten der Bistumsleitung versetzt wurde: "Und dem es auf diese Art und Weise immer wieder ermöglicht wird, Zugriff auf Kinder zu haben, um diese auch zu missbrauchen."

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Täter wurde vorher gerichtlich verurteilt

Versetzung, obwohl der Täter schon Jahre vorher wegen Missbrauch verurteilt worden war: Solche Entscheidungen fielen in der Personalkonferenz des Bistums. Auch die untersuchte Thomas Großbölting mit seinem Team. In seinem Hamburger Institut für Zeitgeschichte erzählt er, dass diese Männer ja alle hochgebildet seien, meist moraltheologisch vorgebildet.

"Diese Männer vertreten eine Organisation, die sich der radikalen Nächstenliebe verschrieben hat. Und wie sich ein Kreis so reflektierter Männer dann dazu entschließen kann, diese Taten nicht aktiv zu verfolgen, sich nicht den Betroffenen zuzuwenden, sondern vor allen Dingen Institutionenschutz zu betreiben, um die Priesterweihe des missbrauchenden Mitbruders erhalten zu können, das war eine für mich erschreckende Einsicht", sagt Großbölting.

Vom Opfer zum Beiratssprecher

Martin Schmitz wurde ebenfalls befragt, er ist aber auch der Sprecher des Beirats der Studie. Die wird zwar vom Bistum Münster bezahlt, aber die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler betonen ihre Unabhängigkeit. Diesmal sind es vor allem Historiker. Keine Juristen, wie in Köln oder München. Und sie schauen auch: Was wussten eigentlich die Gläubigen in den Gemeinden?

Martin Schmitz erinnert sich an eine Situation im Ferienlager, als ein anderer Junge aus dem Zelt gerannt kam und rief, "Hilfe, Hilfe, der Kaplan hat mir in die Hose gefasst". "Mit dieser Information ist er in das Kochzelt gerannt. Da standen die Kochfrauen, die haben das gehört." Doch das Wort des Priesters wog schwerer. Niemand half den Kindern.

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Martin Schmitz in einer Werkstatt

Martin Schmitz in seiner Möbelwerkstatt

Martin Schmitz und andere Betroffene leiden oft ein Leben lang. Trotz sechs Jahren Therapie hat er immer noch schlimmste Schlafstörungen. Weil er nach durchwachten Nächten nicht arbeiten konnte, musste er schließlich seine geliebte Möbelwerkstatt schließen. Er und auch die Wissenschaftler fordern, dass die Politik stärker eingreifen müsse.

Appell an die Politik

Thomas Großbölting sagte im WDR-Interview: "Es wäre meines Erachtens gut, wenn sich die Politik, wie zum Beispiel in Irland, zur Aufgabe machen würde, stärker in diesen Aufarbeitungsprozess einzugreifen." Er wisse, dass eine Art Aufklärungs-Kommission, wie die Royal Commission in Irland, in Deutschland unüblich sei: "Und trotzdem wäre mein Appell an die Politik oder diejenigen, die als Juristinnen und Juristen Gesetze prägen, aktiver und offensiver darüber nachzudenken, ob man nicht Modelle finden kann, wo der Staat eine aktivere Rolle im Aufarbeitungsprozess übernehmen kann."

Denn trotz aller Missbrauchsgutachten: Im Moment seien es Betroffene, wie Martin Schmitz, die oft ganz allein dafür sorgen müssten, dass die Verantwortlichen in der Kirche sich überhaupt bewegen.

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