Porträt von Thomas Großbölting

Leiter der Missbrauchsstudie Münster: Missbrauch war "ein offenes Geheimnis"

Stand: 11.06.2022, 11:17 Uhr

Im exklusiven WDR-Interview sagt Historiker Thomas Großbölting: Sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche war ein offenes Geheimnis. Nötig sei mehr Engagement der Politik.

Begleitend zur Missbrauchsstudie zum Bistum Münster, die am 13.6. veröffentlicht wird, hat der Historiker Thomas Großbölting ein Buch geschrieben: "Die schuldigen Hirten". Die Verantwortlichen in der Kirche wollten immer noch zu sehr die Regeln bestimmen - und schützen damit vor allem die Täter. Mit Blick auf den Aufarbeitungsprozess fordert er das Eingreifen der Politik.

Was war für Sie bei der Arbeit an der Studie die überraschendste Erkenntnis?

Professor Thomas Großbölting: Für mich ganz persönlich war besonders eindrücklich, wie stark das implizite Wissen um den Missbrauch auch vor 2010 schon verbreitet war. Sowohl in den Bistumsleitungen, in den Bistumsverwaltungen, wie auch in den jeweiligen Pfarrgemeinden. Sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche war ein offenes Geheimnis und gelegentlich sogar gar kein Geheimnis.

Was war die bitterste Erkenntnis, die Sie hatten, während Sie Gespräche führten und Akten lasen?

Großbölting: Besonders herausstechend war der Skandal im Skandal, die Vertuschungsaktivitäten von Seiten der Bistumsleitung. In einer Personalkonferenz sitzen Bischöfe, Weihbischöfe, meistens promoviert, moraltheologisch geschult. Und sie vertreten eine Organisation, die sich der radikalen Nächstenliebe verschrieben hat.

Und wie sich ein Kreis so reflektierter Männer dann dazu entschließen kann, diese Taten nicht aktiv zu verfolgen, sich nicht den Betroffenen zuzuwenden, sondern vor allen Dingen darauf zu schauen, Institutionenschutz zu betreiben, um die Priesterweihe des missbrauchenden Mitbruders erhalten zu können, das war eine für mich erschreckende Einsicht.

Besonders herausstechend war der Skandal im Skandal, die Vertuschungsaktivitäten von Seiten der Bistumsleitung. Thomas Großbölting

Ein wichtiger Fall in Münster ist der des verstorbenen Priesters, Heinz Pottbäcker. Was wird daran deutlich?

Großbölting: Wir haben es hier mit einem Täter zu tun, der über 40 Jahre lang Priester war, 14 Mal versetzt wurde und im Rahmen seiner seelsorglichen Tätigkeit aktenkundig mindestens 21 Kinder missbrauchte. Es ist davon auszugehen, dass die Dunkelziffer viel, viel höher ist.

Und: Heinz Pottbäcker ist gegenüber den Bistumsverantwortlichen kein Geheimniskrämer, sondern man weiß auf allen Seiten um die pädophile Neigung und die pädosexuellen Aktivitäten von Pottbäcker. Pottbäcker ist ein Intensivtäter, der immer wieder von Seiten der Bistumsleitung versetzt wurde und dem es auf diese Art und Weise immer wieder ermöglicht wurde, Zugriff auf Kinder zu haben und diese zu missbrauchen.

Einer der Bischöfe, die daran beteiligt sind, ist ja auch Kardinal Höffner. Ein hochangesehener Bischof in Deutschland. In Köln gibt es einen Platz mit seinem Namen. Die CDU hat immer noch einen Arbeitskreis, der nach ihm benannt ist. Was erwarten Sie, wenn dann herauskommt, dass ein Bischof eben doch kein so gutes Beispiel für Moral und Anstand ist?

Großbölting: Kardinal Höffner ist im Zusammenhang mit der Aufdeckung des Missbrauchs im Bistum Köln sicherlich einer derjenigen Bistumsleiter, die in besonderer Weise ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden sind. Und das würde dann auch bedeuten, dass sich diejenigen, die heute den Kardinal-Höffner-Kreis betreiben, ernsthaft damit beschäftigen sollten, ob man den Namen nicht ablegt.

Sie schreiben im Buch zur Studie "Die schuldigen Hirten", der Missbrauch treffe die Kirche ins Mark. Warum ist das so?

Großbölting: Gottesverehrung realisiert sich im Christentum vor allem durch praktizierte Nächstenliebe. Im sexuellen Missbrauch kehrt sich dieser sehr basale Zusammenhang radikal um: Der Täter lenkt die Gottesliebe des einzelnen Kindes auf sich, schafft damit eine eigene Machtposition, die er dann ausnutzt, um seine eigenen sexuellen Wünsche, aber auch seine Machtbedürfnisse auszuleben. Damit ist dieser ursprüngliche Zusammenhang grundlegend pervertiert.

Was müsste sich denn ändern?

Großbölting: Das, was im Moment passiert, konzentriert sich vielfach auf Maßnahmen, die man vielleicht als Sicherungs- und Polizei-Aktionen beschreiben kann. Man versucht, bessere Beobachtungsinstrumente zu installieren, Präventionsschulungen einzuführen, sodass es eine größere Sensibilität gibt. Man hat auch die kirchenrechtlichen Bestimmungen angepasst. Das ist alle Mühe wert, keine Frage.

Darüber hinaus aber bräuchte es meines Erachtens wesentlich mehr. Ich glaube, dass es insgesamt in der katholischen Kirche einer Diskussion bedarf um Machtstrukturen. Dass sich Christentum in seiner katholischen Gestalt vor allen Dingen als hierarchisch organisierte Organisation zeigt, ist nicht gottgegeben, sondern diskussionswürdig und veränderbar.

Ich glaube, dass es insgesamt in der katholischen Kirche einer Diskussion bedarf um Machtstrukturen. Thomas Großbölting

Die Bischöfe sagen doch, sie wollen die Kirche ändern. Sie wollen auch den Missbrauch aufklären.

Großbölting: Der Aufarbeitungsprozess wäre lange nicht so weit, wenn sich nicht einzelne Betroffene wie auch Betroffenengruppen zu Akteuren, zu Anwälten ihrer eigenen Sache gemacht hätten. Mit der Öffentlichkeit zusammen. Und mit wenig Unterstützung der Politik für ihre Sache.

Was erwarten Sie von der Politik?

Großbölting: Es gibt andere Länder, beispielsweise Irland, in denen es sich die Politik sehr viel deutlicher zur Aufgabe gemacht hat, die Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche von außen und damit vielleicht auch effektiver zu betreiben.

Der eigentliche Gestus der Kirche in der momentanen Situation selbst müsste meines Erachtens sein, als schuldbewusste Institution die Betroffenen darum zu bitten, ihre Positionen und ihre Vorstellungen für den Umgang mit sexuellem Missbrauch, Wiedergutmachung und Vergleichbares zu formulieren.

Im zweiten Schritt wäre es dann an der Kirche darauf zu hoffen, dass sie von den Betroffenen aufgefordert wird, in diesem Prozess auch eine aktive Rolle zu übernehmen.

Das Interview führte Christina Zühlke.

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