Portrait der Friedensbotschafterin Mevlüde Genç

Nachruf auf Mevlüde Genç - ein Symbol der Toleranz

Stand: 30.10.2022, 16:01 Uhr

Friedensbotschafterin Mevlüde Genç ist gestorben. Rassistischer Hass tötete fünf ihrer Familienmitglieder. Trotzdem ließ sie sich davon nicht verbittern. Ein Nachruf von WDR-Redakteur Tuncay Özdamar.

Von Tuncay Özdamar

Die Nachricht über den Tod von Mevlüde Genç erschüttert die deutsch-türkische Community. Die mutige Mutter, die fünf Familienmitglieder beim rassistischen Brandanschlag am 29. Mai 1993 in Solingen verlor und später das Bundesverdienstkreuz sowie den Verdienstorden des Landes NRW erhielt, hat sich am Sonntag im Alter von 79 Jahren von dieser Welt verabschiedet.

Mit Mevlüde Genç geht auch ein Stück Geschichte

Die Türkeistämmigen sind nicht nur deshalb traurig, weil mit Mevlüde Genç ein Symbol der Toleranz und des Friedens in Deutschland geht. Mit ihr geht auch ein Stück Geschichte, ein Stück Heimat in Deutschland, was sie für viele Deutsch-Türkinnen und -Türken bedeutete.

In einem Interview vor einigen Jahren sagte sie mal:

"Ich bin zwar in der Türkei geboren, aber hier lebe ich jetzt. Ich bin sehr dankbar, dass ich hier bin und hier auch unser Brot verdient habe. Wir müssen zusammen leben wie Geschwister." Mevlüde Genç

Keine Wörter reichen aus, um ihren Schmerz und ihr Leid zu beschreiben. Mevlüde Genç hat über Nacht zwei Kinder, zwei Enkelkinder und eine Nichte verloren. Von heute auf morgen wurde ihr Leben, das sie mit ihrem Mann in Solingen durch die Jahre aufgebaut hat, auf den Kopf gestellt. Vier Rassisten zerstörten ihr bisheriges Leben.

Die Mutter Mevlüde Genç musste Unmenschliches leisten. "Ich habe fünf meiner Kinder an einem Tag verloren und am selben Tag in Särge gelegt. Ich habe nachts geweint und mich tagsüber um meine anderen Kinder gekümmert. Ich habe meine Tränen nicht gezeigt." Das sagte sie später in einem Interview. Was für ein tapferes Herz.

Brandanschlag in Solingen - vergiftete Stimmung in Deutschland

Der Brandanschlag von Solingen ereignete sich in einer Zeit, in der in Deutschland viele andere rassistischen Anschläge stattfanden wie etwa in Hoyerswerda oder in Mölln. Die Stimmung im Lande war dadurch vergiftet.

Viele Türkinnen und Türken hatten Angst um das Leben ihrer Familien bekommen. Ihre Sorge: Wird auch unser Haus in Brand gesteckt? Manche organisierten für die Nächte private Wachdienste und passten ab Mittenacht auf, dass niemand mit einem Benzinkanister um die Ecke kam und ihre Wohnungen anzündete.

Mevlüde Genç hatte allen Grund, in dieser Atmosphäre gegenüber den Deutschen und dem deutschen Staat Wut zum Ausdruck zu bringen. Doch sie wählte einen anderen Weg, den Weg der Toleranz und des Friedens.

Statt mit Hass reagierte sie mit Besonnenheit: "Ich empfinde niemandem gegenüber Hass. Nur den vier jungen Männern gegenüber, die damals meinen Kindern den Tod gebracht haben, empfinde ich in meinem Innersten eine Abneigung. Sonst nicht. Dieses Land gehört auch uns."

Der Aufruf von Mevlüde Genç zu Toleranz und Frieden hat alle Generationen von Türkinnen und Türken in Deutschland positiv und nachhaltig geprägt. Genç hat den Menschen gezeigt, dass die Liebe ein stärkeres Gefühl ist als der Hass. Auch in dem schlimmsten Moment unseres Lebens gibt es immernoch Werte, die uns helfen können, mit der tiefen Trauer umgehen zu können. Und: Gegenüber den Rassisten sitzen alle in einem Boot. Nicht die gegenseitige Zerfleischung, sondern der Zusammenhalt, ist gefragt.

Kanzler Helmut Kohl blieb der Trauerfeier fern

Ein Ereignis hat allerdings doch noch eine tiefe Wunde an der starken Brust von Mevlüde Genç hinterlassen. Helmut Kohl (CDU), der damalige Bundeskanzler, weigerte sich, an der Trauerfeier in Solingen am verbrannten Haus der Famile Genç teilzunehmen. Sein Regierungssprecher Dieter Vogel verteidigte Kohls Entscheidung und verwies auf die "weiß Gott anderen wichtigen Termine" des Kanzlers. Man wolle schließlich nicht "in Beileidstourismus ausbrechen".

Bis heute ist es vielen türkisch-stämmigen Menschen in Deutschland unverständlich, warum sich Helmut Kohl damals so verhielt. Sie haben ihm diese Weigerung nie verziehen - bis heute nicht.

 Mevlüde Genç neben Angela Merkel

Angela Merkel (links) mit Mevlüde Genç

Es gibt unzählige Bilder, die Angela Merkel (CDU), die spätere Kanzlerin, zusammen mit Mevlüde Genç zeigen. "Mutti Merkel" mit "Mevlüde anne" auf Fotos … Unter anderem auch deshalb waren viele Deutsch-Türken traurig, als sich Angela Merkel vor einem Jahr von der politischen Bühne verabschiedet hat.

Als ein türkischer Journalist Mevlüde Genç vor ein paar Jahren fragte, wie sie es aushalten kann, in einer Stadt zu leben, in der ihr unendliches Leid angetan wurde, antwortete Genç: "Hier ist zu meiner Heimat geworden, meine Kinder leben hier."

Mevlüde Genç blieb Solingen treu

Genç hat die Stadt Solingen nie verlassen, hat ihre Schmerzen dort in sich getragen und ihr Leben lang die Menschen zum friedlichen Zusammenleben aufgerufen. Mevlüde Genç ist zum Symbol der Toleranz in Deutschland geworden.

Nun ist die Stimme des Friedens für immer still. Mevlüde Genç hat ihr Leben verloren - in jener Stadt, in der sie fast immer gelebt hat, in Solingen. Doch eine letzte Fahrt steht ihr noch bevor: Ihr Leichnam wird in die Türkei überführt, nach Amasya, wo sie ihre familiären Wurzeln hat. Dort wird sie auch begraben, weit weg von Deutschland, im Norden Anatoliens, in einem stillen Dorf namens Mercimek, wo ihre Reise begann.  

Tuncay Özdamar ist Leiter der türkischen Redaktion von WDR Cosmo

Der Autor, Tuncay Özdamar, ist Leiter der türkischen Redaktion von WDR Cosmo. Für Dienstag (01.11.2022) um 14 Uhr ist eine offizielle Trauerfeier an der Unteren Wernerstraße in Solingen geplant. Dort steht das Haus, auf das im Mai 1993 der Brandanschlag verübt wurde.