Innenminister schreibt Brandbrief: Alarmstufe Rot in der Landesverwaltung

Stand: 10.03.2023, 18:03 Uhr

Das Personal der Bezirksregierungen ist massiv überlastet, warnt Innenminister Reul. Aufgaben könnten deshalb nur zeitverzögert oder gar nicht erledigt werden. Wie handlungsfähig ist die Landesverwaltung?

Von Sabine TentaSabine Tenta

Corona-Soforthilfen, Fluthilfen und Heizkostenzuschüsse - viele Unterstützungsprogramme des Landes in den Krisen der letzten drei Jahre müssen von den fünf Bezirksregierungen in NRW abgewickelt werden. Das sorge für eine enorme Belastung des Personals dort, warnt NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU), der oberste Chef aller Landesbediensteten. In den Bezirksregierungen in Köln, Düsseldorf, Münster, Detmold und Arnsberg sind die Mitarbeitenden im Dauerstress.

Auf Antrag der SPD wird der NRW-Landtag am Freitag in einer Aktuellen Stunde über die Personalsituation in den Bezirksregierungen debattieren. Die Sozialdemokraten beziehen sich dabei auf einen "Brandbrief", den Herbert Reul intern an seine Kabinettskolleginnen und -kollegen geschrieben hat. Der Brief gelangte offenbar ungeplant an die Öffentlichkeit.

Ist die Verwaltung nur bedingt handlungsfähig?

In dem Schreiben, das dem WDR vorliegt, schildert Reul die Personalnot in der Verwaltung. Die Grenze der Belastbarkeit in den Bezirksregierungen sei "schon länger erreicht und in vielen Bereichen inzwischen überschritten". Die Personaldecke sei zu kurz, um alle Anforderungen "zeitnah und in der gewünschten Qualität und Quantität abzudecken". Hinzu komme ein hoher Krankenstand wegen der hohen Belastungssituation.

"Das alles hat zwangsläufig zur Folge, dass noch mehr Aufgaben zu priorisieren sind, immer weniger in der gebotenen Tiefe oder nur mit erheblicher zeitlicher Verzögerung bewältigt und im zunehmenden Maße auch gar nicht mehr wahrgenommen werden können." Herbert Reul, NRW-Innenminister

Droht da der oberste Chef der Landesverwaltung damit, dass Aufgaben "gar nicht mehr wahrgenommen werden können"? Oder nur "zeitverzögert" oder "immer weniger in der gebotenen Tiefe"? In einer Zeit von Krisen, in denen Bürgerinnen und Bürger dringend auf Hilfe warten, klingt das alarmierend. Zumal, wenn "schnelle, unbürokratische Hilfe" versprochen wurde.

Ex-Regierungspräsidentin von Köln: "Die Lage ist dramatisch"

Gisela Walsken (SPD), die bis Ende August 2022 als Regierungspräsidentin der Bezirksregierung Köln vorstand, bestätigte im Gespräch mit dem WDR: "Ja, die Lage ist dramatisch." Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fühlten sich "ausgepresst und sehr unter Druck". Unter ihrer Amtsführung seien "sehr viele Überstunden gemacht" worden.

Gisela Walsken

Gisela Walsken, Ex-Regierungspräsidentin von Köln

Und Walsken führt weiter aus: "Es führt sicherlich auch dazu, dass bestimmte Aufgaben nicht in der Qualität oder in der Quantität bearbeitet werden können." Sie habe damals entschieden, "dass bestimmte Aufgaben nicht mehr vorrangig behandelt werden können, also liegen bleiben." Konkret habe es sich bei den unerledigten Aufgaben um "Berichtspflichten" gehandelt: "Also immer wieder Berichte an Ministerien zu schreiben, da haben wir an vielen Stellen gesagt, das muss jetzt einfach mal ausgesetzt und auf später verschoben werden."

Reul: Keine Entlastung in Sicht

Innenminister Reul stellt in seinem Schreiben an das Kabinett fest, trotz der hohen Anzahl zusätzlicher Stellen in den letzten Jahren, sei "eine durchgreifende Entlastung" nicht in Sicht. Im Gegenteil. Es sei zu erwarten, dass die Bezirksregierungen "weiterhin mit der Durchführung diverser Förderprogramme zur Krisenbewältigung" sowie weiterer Aufgaben beauftragt würden. Aktuell müssten sie bereits 340 Förderverfahren abwickeln.

Seine Kabinettskollegen mahnt der Innenminister auch gleich, welche Herausforderungen aktuell anstehen:

  • Aufnahme und Unterbringung ukrainischer Flüchtlinge
  • Energiewende
  • Ganztagsausbau
  • Strukturwandel Rheinisches Revier
  • Fördervorhaben des Sondervermögens Krisenbewältigung

Das "Sondervermögen Krisenbewältigung" ist ein Extraschulden-Topf des Landes, der bis zu fünf Milliarden Euro umfasst und sich in 50 Einzelvorhaben aufsplittert.

Konkrete Auswirkungen schon heute spürbar

Wer von einer der Krisen betroffen ist und auf Hilfe wartet, hat es mitunter schon am eigenen Leib erfahren: Es kann dauern, bis Hilfsgelder ausgezahlt werden. Aber auch in anderen Bereichen sind die Einschränkungen spürbar.

So berichtete der "Kölner Stadt-Anzeiger" (Mittwochsausgabe), dass die Bezirksregierung Köln bis August keine Kapazitäten habe, um weitere Rektorenstellen für Grundschulen auszuschreiben - und das in Zeiten des akuten Lehrkräftemangels.

Kabinett müsste Prioritäten setzen

Herbert Reul mahnt in seinem Schreiben an die Ministerinnen und Minister eine stärkere Priorisierung an: "Alle Ressorts sind daher aus meiner Sicht verantwortlich und aufgefordert, noch intensiver zu prüfen, ob neue Aufgaben nicht auch außerhalb des BR-Bereichs vollzogen werden können."

Ein Hebel, den auch Ex-Regierungspräsidentin Walsken sieht: "Nicht jede Aufgabe, die durch Bezirksregierungen erfüllt werden soll, ist prioritär." Die Ministerien müssten untereinander klären, was in welcher Dringlichkeit von den fünf Bezirksregierungen erledigt wird.

Sie lobt ausdrücklich, dass Herbert Reul alle Bezirksregierungen besucht und erfahren habe, was in den Behörden geleistet wird. "Er hat gesehen, dass wir deutlich über den Rand des Belastbaren waren."

Problem schon länger bekannt

Gisela Walsken bestätigt, dass es schon früher Warnungen von Herbert Reul vor einer Überlastung der Bezirksregierungen an das Kabinett gegeben habe. Der Innenminister selbst erinnert in seinem Brandbrief an ein Schreiben vom 9. März 2022 und eine mündliche Unterrichtung am 7. Februar 2023.

Aktueller Nachtrag: Stellungnahmen der Bezirksregierungen

Anfragen des WDR an die fünf Bezirksregierungen zur konkreten Personallage wurden am Donnerstag mit Verweis auf die Parlamentsdebatte am Freitag vorerst nicht beantwortet. Freitagnachmittag gab es Antworten aus Arnsberg, Düsseldorf, Münster, Köln und Detmold.

So teilte die Bezirksregierung Arnsberg mit, dass wegen einer Vielzahl neuer Aufgaben und einem erhöhten Aufwand bei Bestandsaufgaben der Stellenbestand nicht ausreicht, "um das gesamte Aufgabenspektrum in der gewohnten Quantität und Intensität abzudecken". Gleichlautend antworteten die Behörden in Münster und Düsseldorf.

Arnsberg führt weiter aus, dass seit 2020, also dem Beginn der Corona-Pandemie, knapp 250 Aufgaben hinzugekommen seien. Seit 2022 gebe es dort einen Anstieg des Krankenstandes. Auf die Frage, ob Aufgaben liegen bleiben müssen, teilte die Behörde mit: "Die BR Arnsberg erfüllt derzeit alle wesentlichen Aufgaben."

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