"Falsche Impfstrategie": Kassenärzte-Chef Gassen kritisiert Lauterbach

Stand: 23.07.2022, 18:50 Uhr

Millionen Dosen Impfstoff zuviel bestellt, vierte Impfung für alle unsinnig, Isolationspflicht überholt - Kassenärzte-Chef Gassen lässt kein gutes Haar an der deutschen Corona-Politik. Lauterbach kontert per Twitter.

Er selbst werde sich kein viertes Mal gegen Corona impfen lassen, sagt der Chef der Bundesvereinigung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) Andreas Gassen. Im Interview mit der "Neuen Osnabrücker Zeitung" kritisiert er außerdem die von Medien kolportierten Pläne des Gesundheitsministers zur neuen Impfstoffbestellung von 200 Mio. Dosen und forderte schließlich die Aufhebung aller Isolations- und Quarantänevorgaben.

"Wir müssen zurück zur Normalität. Wer krank ist, bleibt zu Hause. Wer sich gesund fühlt, geht zur Arbeit", forderte Gassen. "So halten wir es mit anderen Infektionskrankheiten wie der Grippe auch." Die Aufhebung der Isolationspflicht sei die einfachste Lösung gegen die Personalnot in vielen Branchen.

Zu viel Impfstoff bestellt?

Auch bei der Impf-Planung für den Herbst und Winter habe die Bundesregierung falsch geplant: Die Bestellung sei viel zu hoch, sagte Gassen im Bezug auf das angebliche Ziel der Bundesregierung von bis zu 60 Millionen Impfungen im Herbst und Winter. Großzügig gerechnet sei die KBV auf einen Bedarf von 30 Millionen Impfungen gekommen. Einberechnet seien dabei ein zweiter Booster für alle ab 60, ein erster Booster für Jüngere und ein "großzügiges" Kontingent für Ungeimpfte. Bei 200 Mio. bestellten Impfdosen sei zu erwarten, dass Impfstoff im Wert von vielleicht 100 Millionen Euro weggeworfen werden müsse.

Dr. Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung

Dr. Andreas Gassen

Außerdem kritisiert Gassen die Empfehlung Lauterbachs, dass auch Menschen unter 60 sich ein viertes Mal impfen lassen sollten. Er verweist dabei auf eine israelische Studie vom April. Sie zeige, dass eine vierte Impfung bei jüngeren Menschen ohne Vorerkrankung nur einen geringen zusätzlichen Schutz bringt. Auch bei älteren Gesunden wäre er zurückhaltend, vor allem dann, wenn sie gerade eine Omikron-Infektion frisch überstanden hätten.

Vor zu vielen oder zu schnellen erneuten Impfungen würden auch Immunologen warnen, sagt Gassen. Da ist der Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie, Carsten Watzl, allerdings unbesorgt. Wenn der Abstand von drei Monaten zwischen Impfungen oder Infektion und Impfung eingehalten würde, sei das seiner Einschätzung nach kein Problem. Diesen Abstand empfiehlt auch die Stiko.

Kassenärzte-Chef Gassen kritisiert nicht zum ersten Mal die Corona-Politik der Bundesregierung. Oft hat er damit auch Kritik aus der Ärzteschaft auf sich gezogen, zum Beispiel bei der Forderung nach einem "Freedom-Day" im September 2021 oder Äußerungen zu einem angeblichen "Impfzwang".

Lauterbach wehrt sich per Twitter

Am Samstag reagierte Lauterbach per Twitter auf die Kritik Gassens. Das angebliche Ziel von 60 Millionen Impfungen habe er nie ausgegeben, erklärte der Bundesgesundheitsminister. "Auch ist es nicht hilfreich, wenn ein wichtiger Ärztefunktionär betont, er werde sich im Herbst nicht impfen lassen. Das schafft kein Vertrauen", fügte Lauterbach hinzu. Außerdem lehnte er eine Lockerung der Isolationspflicht ab: "Infizierte müssen zur Hause bleiben. Sonst steigen nicht nur die Fallzahlen noch mehr sondern der Arbeitsplatz selbst wird zum Sicherheitsrisiko."

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Was sagt das Gesundheitsministerium?

"Die Bundesregierung hat sichergestellt, dass ausreichend COVID-19-Impfstoffdosen im Herbst zur Verfügung stehen werden." Wie viel Impfstoff genau kommen soll, hat das Gesundheitsministerium auf Nachfrage des WDR nicht beantwortet. Dies hänge auch vom Infektionsgeschehen ab. Die Empfehlung einer vierten Impfung für alle sei aber sinnvoll.

Dazu verweist das Gesundheitsministerium auf mehrere Studien im Zusammenhang von Impfungen und Long-Covid. Diese lägen nahe, dass eine vollständige Impfung auch das Risiko von Langzeitfolgen reduziere. Zwar habe keine der bisherigen Studien speziell den Einfluss der vierten Impfung untersucht - ein besserer Schutz vor Long-Covid nach der vierten Impfung sei aber daraus ableitbar.

Droht tatsächlich Impfstoff vernichtet zu werden?

Die Befürchtung des Kassenärzte-Chefs, dass Impfstoff vernichtet werden könnte, kommt nicht aus dem Nichts. Von Anfang Dezember bis Juni sind fast vier Millionen Impfdosen verfallen. Sie mussten vernichtet werden. Die Kosten dafür trägt der Steuerzahler. Lauterbach hatte dazu bereits im Mai gesagt: "Eine Lehre aus der Pandemie ist: Nie wollen wir wieder zu wenig Impfstoff haben". Man müsse auf alle Eventualitäten vorbereitet sein.

Derzeit werden pro Woche knapp unter 250.000 Menschen in Deutschland geimpft. Die Zahl der Impfungen hatte zuletzt wieder zugelegt, nachdem Ende Mai mit knapp über 150.000 Impfungen ein Tiefpunkt bei den wöchentlichen Impfungen erreicht worden war. Eine neue größere Impfkampagne für den Herbst ist geplant.

Zu viel Impfstoff bei uns, zu wenig im Ausland?

Dass der Impfstoff zunächst ungerechet verteilt wurde, war nach Zulassung der ersten Impfstoffe schnell klar, wie eine Recherche des Investigativmagazins "Monitor" erst kürzlich bestätigt hat. Fehlt der Impfstoff woanders, während wir ihn vernichten müssen?

Die Bundesregierung wollte die vernichteten Impfdosen an andere Länder weitergeben. Die internationale Impfstoffallianz Gavi erklärte allerdings, keine Spenden mehr anzunehmen. Es fehlte schlicht und einfach der Bedarf. Inwiefern sich ein Wettlauf um die neuen, auf Omikron angepassten Impfstoffe, wiederholen könnte, ist allerdings unklar.