Ist das Bürgergeld ein Anreiz zum Faulenzen?

Stand: 14.09.2022, 18:45 Uhr

Das Kabinett bringt das Bürgergeld auf den Weg. Kritiker sehen darin eine Art soziale Hängematte. Es fehle der Anreiz zu arbeiten, vor allem mit Blick auf den Niedriglohnsektor. Stimmt das?

Von Oliver Scheel und Frank Menke

Hartz IV geht, das Bürgergeld kommt. Das Kabinett hat unter anderem beschlossen, dass der Regelsatz ab Januar 2023 für alleinstehende Erwachsene auf 502 Euro festgelegt wird, das sind 53 Euro mehr als derzeit bei Hartz IV.

Die Kritik daran ließ nicht lange auf sich warten. Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger etwa sprach von einem falschen Signal an Bezieher kleiner Einkommen im Niedriglohnsektor. Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer sagte, die Erhöhung der Sätze reduziere für viele den Anreiz zu arbeiten.

"Das ist eine deutliche Aufforderung an die, die niedrige Löhne bezahlen, dass sie besser bezahlen." Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VdK Deutschland

Eine Frage der Perspektive

Eine andere Sichtweise nimmt Verena Bentele ein. Die Präsidentin des Sozialverbands VdK Deutschland kritisierte bei "Phoenix" nicht die erhöhte Grundsicherung, sondern die geringe Bezahlung im Niedriglohnsektor: "Das ist eine deutliche Aufforderung an die, die niedrige Löhne bezahlen, dass sie besser bezahlen. Es kann ja nicht sein, zu sagen, der Hartz-IV-Regelsatz ist jetzt zu hoch und die Niedriglöhner haben keinen Abstand mehr.“

Stattdessen müsse man jetzt darüber sprechen, wie man in Deutschland eine Lohnpolitik gestalten könne, mit der mehr Menschen gut bezahlt werden für die wichtige Arbeit, die sie leisteten, so dass sie nicht mehr auf staatliche Hilfe angewiesen seien.

"Es ist natürlich schon richtig, dass letztendlich der Unterschied zwischen dem, was ich verdienen kann, und dem, was ich an Transferleistungen bekomme, ein Faktor ist für den Anreiz, arbeiten zu gehen." Holger Schäfer vom Institut der deutschen Wirtschaft

Entscheidend ist die Spanne

Holger Schäfer vom Institut der deutschen Wirtschaft im Studiogespräch zum Bürgergeld

Holger Schäfer

Dass das neue Bürgergeld Menschen in die vermeintlich bequeme Arbeitslosigkeit lockt, glaubt auch Holger Schäfer so nicht. Auch der Arbeitsmarktexperte vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) gab im WDR zu bedenken: "Es ist natürlich schon richtig, dass letztendlich der Unterschied zwischen dem, was ich verdienen kann, und dem, was ich an Transferleistungen bekomme, ein Faktor ist für den Anreiz, arbeiten zu gehen."

Allerdings sei die Rechnung komplizierter als der simple Vergleich zwischen diesen beiden Größen. "Weil es natürlich auch Erwerbstätige gibt, die Transferleistungen bekommen - Wohngeld etwa. Und vor allem bei größeren Haushalten stellt sich halt auch die Frage, wie kombiniere ich Erwerbseinkommen und Transfereinkommen miteinander." Dafür sei der Erwerbsfreibetrag zuständig. Da gebe es durchaus Reformbedarf.

Kritik am Erwerbsfreibetrag

Der Erwerbsfreibetrag regelt folgendes: Wenn das Einkommen aus Erwerbstätigkeit nicht ausreicht, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, haben Erwerbstätige in der Regel Anspruch auf ergänzende Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Laut Schäfer begünstigt der Freibetrag derzeit in starkem Maße die Ausübung von Tätigkeiten mit geringen Wochenarbeitszeiten.

Für falsch hält Schäfer die ausgesetzten Sanktionen beim Bürgergeld im ersten halben Jahr - außer bei hartnäckigen Terminversäumnissen: "Es könnte eigentlich kaum etwas falscher sein als das. Weil wir aus der Arbeitsmarktforschung gut wissen, dass die unmittelbare, zügige Integration in Arbeit enorm wichtig ist. Mit jedem Tag, der vergeht, wird es schwieriger, Menschen wieder in Arbeit zu bringen."

Kein Zuckerschlecken

Dem Eindruck, dass das Leben mit Transferleistungen grundsätzlich ein Zuckerschlecken ist, widersprechen zudem viele Studien. Demnach ist es ein Leben ohne soziale Teilhabe und eins, das an der Psyche nagt. Nach einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) hat mehr als jeder dritte Empfänger von Transferleistungen psychische Probleme.

Ein zusätzliches Problem sei, dass viele Menschen, die in Hartz IV abrutschen, "keinen oder nur einen niedrigen Schulabschluss erreichen", wie das IAB in einer weiteren Studie herausfand. Diese Menschen seien für den ersten Arbeitsmarkt ohnehin kaum greifbar.

Qualifizierung ist wichtig

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) sagte zudem, dass zwei Drittel der Langzeitarbeitslosen keine abgeschlossene Berufsausbildung hätten. Nur durch Qualifizierung könne der Weg aus der Bedürftigkeit in Arbeit eröffnet werden. Das ist beim Bürgergeld ausdrücklich vorgesehen.

Eine Studie der "IU Internationale Hochschule" in Erfurt kam allerdings zu dem Schluss, dass Arbeitssuchende häufig Angst hätten, Neues zu lernen beziehungsweise nicht mehr lernfähig zu sein. Gerade hier besteht also großer Handlungsbedarf.

Bürgergeld abkassieren und entspannt auf der Couch liegen erscheint angesichts dieser Faktenlage eher unrealistisch. Abgesehen davon müssen die Bezieher des Bürgergeldes nach einer Art Schonfrist von einem halben Jahr eine "zumutbare Arbeit" annehmen.