Karl Ove Knausgård: Der Roman ist die Form des Teufels.
Aus dem Norwegischen von Paul Berf.
btb Verlag, 2023.
128 Seiten, 15 Euro.
"Der Roman ist die Form des Teufels" von Karl Ove Knausgård. Lesestoff – neue Bücher. 20.03.2023. 05:00 Min.. Verfügbar bis 19.03.2024. WDR Online. Von Andreas Wirthensohn.
Der Zeit ein klein wenig voraus
Vielleicht war es tatsächlich so etwas wie ein ästhetisches Initiationserlebnis. Im Herbst 1992 jedenfalls fuhr der damals 24 Jahre alte Karl Ove Knausgård gemeinsam mit einem Freund von Bergen nach Oslo. Am Vormittag wollten sie einer Vorlesung des berühmten Poststrukturalisten Jacques Derrida lauschen, am Abend dann einem Konzert der britischen Band Blur. Während der Hörsaal an der Uni heillos überfüllt war, verloren sich beim abendlichen Konzert gerade einmal fünfzig Zuhörer.
"Der Philosoph und die Band waren natürlich identitätsstiftend, ein nicht geringer Teil der Freude daran, sie gesehen zu haben, bestand darin, hinterher in Bergen davon erzählen zu können. Das sagt im Grund alles, was man über uns wissen musste: Wir kannten uns ebenso gut mit französischer Gegenwartsphilosophie und Dekonstruktion aus wie mit jungen, aufstrebenden britischen Bands, waren also nicht nur auf der Höhe unserer Zeit, sondern ihr eventuell sogar ein klein wenig voraus."
Die Ich-Lastigkeit seiner Texte
Wer Knausgårds Bücher kennt, allen voran sein sechsbändiges autobiografisches Projekt, der weiß, dass für sein eigenes Schreiben die Popmusik wichtiger war als die Postmoderne. Oder wie er selbst sagt: Die extreme Ich-Lastigkeit seiner Texte war offenbar eine Reaktion auf die extreme Ich-Losigkeit der poststrukturalistischen Theorie.
Die Musik hingegen spielt in seinen Romanen stets eine wichtige Rolle, ebenso wie Gefühle, Stimmungen und natürlich der beharrliche Versuch, noch den scheinbar kleinsten Banalitäten des Alltags literarischen Wert zuzuerkennen. Darum sind die großen Vorbilder für ihn auch Gustave Flaubert und Marcel Proust, nicht James Joyce oder andere Literaten, bei denen die Sprache die reale Welt überlagert.
Knausgård ist ein durch und durch realistischer Schriftsteller, und das ist vermutlich auch der Grund, warum seine ausufernden Romane sprachlich oft etwas unterambitioniert wirken.
"Was Literatur betrifft, bin ich persönlich kein Anhänger von Perfektion, für mich geht es beim Schreiben und Lesen vor allem um Überschreitung, während es beim Perfekten um Vollendung geht."
Der perfekte Roman
Flauberts "Madame Bovary" ist für ihn der perfekte Roman – und zwar nicht aufgrund der Handlung, der Figuren oder der großartigen Beschreibungen, sondern aufgrund des Sinns, der, wie Knausgård das nennt, in den Flächen und Räumen des Romans geschaffen wird.
"Denn hier, in diesen einfachen, leicht verständlichen Formen, in denen starke, widerstreitende Kräfte aufeinanderprallen und kontinuierlich Ambivalenz produziert wird, entsteht das Leben der Geschichte – und im Grunde das Leben aller Kunst."
Die gnadenlose Selbstbefragung des Ichs
Ambivalenz, Lebendigkeit, Augenblick – das sind die drei Kernaspekte, die auch Knausgårds eigenes Schreiben bestimmen: die gnadenlose Selbstbefragung eines Ichs, das sich seiner selbst nie sicher ist; das beinahe kindliche Staunen dieses Ichs, wenn es beschreibt, was es selbst erlebt hat; die Fixierung auf die Wirklichkeit, auf Gefühle, bei der Empathie wichtiger ist als Reflexion; und die absolute Gegenwärtigkeit beim Schreiben, das von Assoziationen und Emotionen vorangetrieben wird und doch Halt findet in der literarischen Form.
"In all meinen Romanen habe ich mich dem Augenblick zugewandt, weil sich dort die Welt für uns öffnet. Und der Augenblick ist entstanden, während ich geschrieben habe, so wie der Augenblick entsteht, während er gelebt wird."
Die Praxis des Schreibens
Knausgårds Poetik ist wie seine Literatur: angenehm wenig kopflastig, einfühlsam, lebensklug, eingängig formuliert und vom steten Zweifel am eigenen Tun bestimmt. Es geht darin weniger um kluge Theorie als um die Praxis des Schreibens, oder genauer: um eine Tätigkeit, die für Knausgård von existentieller Bedeutung ist – und gerade deshalb weit über die eigene Person und die eigene Befindlichkeit dieses großen Schriftstellers hinausweist. Wer gerne Derrida liest, wird daran wenig Gefallen finden. Wer gerne Britpop hört, dafür umso mehr.