"E.E." von Olga Tokarczuk
Stand: 18.09.2024, 07:00 Uhr
2019 erhielt Olga Tokarczuk den Nobelpreis für Literatur. Damit rückt nicht nur jeder neue Roman von ihr automatisch in den Fokus der Literaturkritik, sondern auch jeder neu übersetzte, der bislang weniger Resonanz bekam. Diesmal ist es "E.E.", der bereits 1995 in Polen erschien
Olga Tokarczuk: E.E.
Übersetzt von Lothar Quinkenstein.
Kampa Verlag, 2024.
304 Seiten, 25 Euro.
Die Geschichte spielt Anfang des 20. Jahrhunderts in Breslau. Der Familienvater ist zwar Textilfabrikant, aber seine vielen Töchter sind noch geprägt von alten, vormodernen Strukturen. Die Welt des polnischen Bürgertums fängt gerade erst an, entzaubert zu werden, noch ist Breslau keine Großstadt, die alles Ländliche abgestreift hätte.
Ebenso verhält es sich mit den Figuren, die Olga Tokarczuk in kurzen, jeweils zwei- bis dreiseitigen Kapiteln porträtiert, die jeweils als Überschrift den Namen der Person tragen, die im Mittelpunkt steht - allen voran Erna Eltzner, Tochter des Fabrikanten und von seltsamen Ohnmachten und Visionen heimgesucht.
"Sie wandte den Kopf zur Seite, ließ den Blick durch das Zimmer ihrer Mutter wandern. Sah den großen Kleiderschrank, einen wunderlich mächtigen Schemen, der sich im dreiteiligen Spiegel des Toilettentischs vervielfältige. Ihr war, als huschte ein Schatten über die Spiegelfläche. Beunruhigt versuchte sie, sich aufzusetzen, doch sogleich wurde ihr übel. Sie hörte Stimmen, ein lebhaftes Gespräch, doch der Chor der Stimmen drang weder aus dem Esszimmer noch aus einem anderen Raum des Hauses zu ihr her."
Die Stimmen kamen von innen, so wird erklärt, und wer alles in diesem Inneren von Erna Eltzner, abgekürzt E.E., alles von sich Reden machen könnte, interessiert eine muntere Runde aus Mutter, Arzt, Psychologe und einer ganzen Riege parapsychologisch motivierter Mitbürger.
Olga Tokarczuk hat eine Schauergeschichte geschrieben, die sich locker an die Gothic Novel oder die Schauerromantik anlehnt, mit Motiven wie Trancezuständen, unmotiviert herunterfallenden Gegenständen und Séancen am großen Tisch. Hinzu kommt ein etwas als Fremdkörper wirkender Wissenschaftler, der Freuds Traumdeutung gelesen hat und in E.E. ein Studienobjekt vermutet, das ihm zu wissenschaftlicher Prominenz verhelfen könnte. Er erhält Zutritt zu den Séancen und macht sich fleißig Notizen:
"Die Séance dauerte etwa 40 Minuten und endete damit, dass E.E. sehr geschwächt war. Sie sprach mit fremder Stimme von den Gestalten, mit denen sie in der Trance in Kontakt trat. Die Anwesenden wurden zu Zeugen eines Gesprächs, das nur mit einer Stimme geführt wurde. E.E. erwähnte einige Namen, darunter befanden sich auch die Namen verstorbener Angehöriger der Anwesenden."
Tokarczuk hat ein Faible für versponnene und sehr eigenwillige Figuren, für Charaktere, die am Rande einer ansonsten oberflächlichen und farblosen Realität existieren, sei es in Charakterstudien wie der einer verschrobenen Astrologin in "Gesang der Fledermäuse", oder in großen, epischen Geschichtsentwürfen wie "Die Jakobsbücher", einem Roman, in dem ein selbsternannter Erlöser die alten Adelswelten aufmischt.
Dabei nähert sie sich diesen Figuren mit viel Empathie und will wissen, warum selbst aufgeklärte Zeitgenossen sich mit Hingabe abseitigen Phänomenen widmen, wie zum Beispiel einer dieser Aufgeklärten, der Arzt Doktor Vogel:
"Wenn das Unbewusste unserem Bewusstsein nicht zugänglich ist – wie können wir dann wissen, dass es existiert. Vogel zitierte Freud, vielmehr die Fallstudien – all die anonymen Symptomträger, die Eingang finden sollten in eine besondere, alternative Geschichte der Menschheit. Oder er erinnerte an Breughel, Bosch, Coleridge, Blake, Quevedo, die geduldig die Tiefen des Ozeans ans Licht gebracht hätten."
Dieser Roman spielt auf der Schwelle von Tradition und Moderne, Aberglauben und Wissenschaft. Hier finden sich Bilder und Formulierungen, die noch den poetischen Zauber einer Welt bewahren wollen, von dem die schnöde Technikmoderne nichts mehr wissen will.
Insofern ist es auch kein Wunder, dass der Roman 1914 endet. In den Schützengräben des Ersten Weltkriegs hatten die harmlos versponnenen Geisterwelten des 19. Jahrhunderts keine Chance mehr. Und welch ein Verlust das sein kann, erzählt die Autorin gewohnt versiert und stilsicher in dieserm Roman. Natürlich ist auch die Stockholmer Nobelpreisjury zu loben. Denn so sorgen neue Übersetzungen dafür, dass Olga Tokarczuks Werk mittlerweile fast vollständig auf deutsch vorliegt.