"Juli, August, September" von Olga Grjasnowa
Stand: 17.09.2024, 07:00 Uhr
Olga Grjasnowas Debütroman von 2012 "Der Russe ist einer, der Birken liebt" war ein Bestseller. Jetzt erscheint mit "Juli, August, September" ein neuer Roman der 1984 in Baku geborenen und inzwischen in Wien lebenden Schriftstellerin.
Olga Grjasnowa: Juli August September.
Hanser Berlin, 2024.
224 Seiten, 24 Euro.
Niemand ruft Ludmilla mehr bei ihrem eigentlichen Vornamen; und das ist "Lou", wie sie inzwischen heißt, sehr recht. Ihr Mann, Konzertpianist im Krisenmodus, hat sie zuerst so genannt
"Sergej war derjenige, der Ljuda, meinen Kosenamen, zu Lou abkürzte, was mir gefiel, denn so hatte er nichts mit mir zu tun und gab mir eine neue Identität."
Und weil Lou nie weiß, wie jüdisch oder deutsch sie nun ist, oder wie sehr ihre russisch-aserbaidschanische Herkunft sie eigentlich prägt, passt ihr eine neue Identität gut ins Konzept. Im Vergleich mit Olga Grjasnowas viel jüngerer Heldin Mascha aus "Der Russe ist einer, der Birken liebt", ist Lou - Kunsthistorikerin, Ende 30, verheiratet und Mutter einer Tochter - zwar einigermaßen gesettelt, aber die Fragen nach dem Woher und Wohin im Leben, sind nicht weniger geworden. Religion spielt - wenn überhaupt - nur eine untergeordnete Rolle in Lous Leben. Aber was ist das zB mit ihr und der jüdischen Kultur?
"Wir alle hatten den Eintrag "Jude" in unserer Geburtsurkunde oder in unseren Pässen gehabt, aber es gab kaum Traditionen, die übrig geblieben wären. Unser Judentum war eine kulturelle Performance, und selbst die war nicht besonders gut."
Der kapitelgebende Juli, in dem der erste der drei Romanteile spielt, ist gefüllt mit Berliner Alltagsbelangen. Lou kümmert sich um Haushalt und Kind, muss dabei aber weitgehend auf Sergej verzichten. Auch er steht unter Druck, weil seine Musikerkarriere auf der Kippe steht. Wie sehr sich Lou und Sergej voneinander entfernen, wie ihre Unzufriedenheit wächst, wird spürbar wie ein unangenehm wummernder Bass
"Das Kind hatte eine Kluft zwischen uns errichtet. Wir liebten einander noch immer und schliefen im selben Bett, doch obwohl wir alles voneinander wussten, wurden wir uns immer fremder. Aber dabei waren wir uns so sicher gewesen, dass wir nicht zu einem dieser Paare werden würde."
(O-Ton: Olga Grjasnowa)
"Es ist eine Ausnahmesituation für sie und sie versucht, halbwegs rauszufinden wie das Leben für sie weitergehen könnte. Und welche Rolle ihre Vergangenheit für sie gespielt hat."
Für die familiäre Vergangenheit hat sich Lou auch bisher schon interessiert. Aber im August tritt plötzlich - wummernd - Unausgesproches in den Vordergrund. Großtante Maya will mit der zum größten Teil in Israel lebenden Verwandtschaft nach Gran Canaria reisen, um ihren 90. Geburtstag zu feiern. Lou fährt eher widerwillig. Um dann zu erfahren, dass etwas nicht stimmt an Großtante Mayas Erzählungen. Dass die Geschichte, wie sie 1942 mit ihrer Schwester Rosa, Lous inzwischen verstorbener Großmutter, vor den deutschen Besatzern aus Belarus flüchtete, anders gewesen sein muss. Es ist nicht das klassische Thema familiären Schweigens, das Olga Grjasnowa in "Juli August September" bearbeitet. Sondern etwas, das darüber hinaus geht:
(O-Ton: Olga Grjasnowa)
"Ich glaube, es geht eher um Kommunikation in der Familie, um das, wer die Macht um bestimmte Familienerzählungen an sich reißt, wer sie formt. Und was diese Familienerzählungen mit uns und mit unseren Familien und vor allem mit dem Bild, das wir über uns selber und unsere Familien machen (!) und vielleicht um unsere Herkunft. Es ist vielleicht etwas, wie Sprache uns formen kann, zum Positiven und zum Negativen"
Der Schreibprozeß fiel ihr diesmal besonders schwer, sagt Olga Grjasnowa. Weil es die Geschichte der eigenen Großmutter ist, von der sie schon lange erzählen wollte. Und weil die dafür notwendigen Recherchereisen nach Belarus und Moskau nicht möglich waren.
- "Ich habe mit vielen Menschen gesprochen...mich vor allem auf schriftliche Quellen verlassen".
Und dass sie das dritte Kapitel dann gar nicht "September" genannt hat, obwohl es so im Titel steht, hat mit dem Massaker der islamistischen Hamas zu tun.
- "Es spielt alles vor dem 7. Oktober, darum heißt das Kapitel auch nicht "September", sondern "glühend heißer Boden"."
Olga Grjasnowas Lou ist eine tragikomisch-zerrissene und getriebene Heldin, die Ordnung nicht nur in ihr gegenwärtiges Leben, sondern auch in ihre Herkunftsgeschichte bringen will. Und auf einem Israel-Trip im September lichten sich dann auch ein paar komplexe Lebensfragen.
In Olga Grjasnowas temporeichem Erzählton wummert es, aber vor allem hallt in diesem Roman ein Echo wider, das an verdrängte Vergangenheit, vergessen geglaubte Schicksale und an die Verfolgung von Juden in der Sowjetunion erinnert. Juli August September ist ein Roman, der mit viel Verve und einiger Wucht daherkommt.