Buchcover: "Herrndorf. Eine Biographie" von Tobias Rüther

"Herrndorf. Eine Biographie" von Tobias Rüther

Stand: 10.08.2023, 11:59 Uhr

Zehn Jahre nach seinem Tod erscheint eine ebenso akribische wie einfühlsame Biographie des Ausnahmekünstlers Wolfgang Herrndorf. Eine Rezension von Andreas Wirthensohn.

Tobias Rüther: Herrndorf. Eine Biographie.
Rowohlt Berlin, 384 Seiten, 25 Euro.

Der größte deutschsprachige Schriftsteller seiner Generation

Dass Wolfgang Herrndorf wirklich, wie Tobias Rüther ganz am Ende seiner Biographie schreibt, der größte deutschsprachige Schriftsteller seiner Generation war, kann, wer mag, bezweifeln. Sein erster Roman mit dem etwas affektierten Titel "In Plüschgewittern" schwankte zwischen Brillanz und billigem Witz, die Erzählungen des Bandes "Diesseits des Van-Allen-Gürtels" sind ebenfalls von wankelmütiger Qualität, "Tschick" ist ein eher klassischer Coming-of-Age-Roman für Leser aller Altersklassen, "Sand" ein schwer zu lesendes Gemisch aus allen möglichen Genres – und ja, "Arbeit und Struktur", dieser ebenso schonungslose wie poetische Bericht aus dem Leben eines Todgeweihten steht tatsächlich wie ein großartiger Solitär in der deutschen Literaturlandschaft.

Herrndorf selbst hätte das Attribut des "Größten" vermutlich vehement zurückgewiesen und andere Etikettierungen bevorzugt, die Rüther ebenfalls – und mit deutlich besseren Gründen – anbringt: eigenwillig etwa oder unzeitgemäß, von großer Unbedingtheit und natürlich perfektionistisch. All das war er nämlich, und zwar in vielfacher Hinsicht: als junger Maler an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg, der sich eher an Vermeer als an der Abstraktion orientierte; als Umschlagillustrator und als Zeichner für die Satirezeitschrift "Titanic"; als Schriftsteller, der seinen Stil in Briefen und E-Mails entwickelte und erprobte – und als Autor, der schrieb, weil er keine Lust mehr aufs Malen hatte, sich gleichzeitig aber auch dem Literaturbetrieb entzog. 2008, mit Anfang vierzig, sah das Leben des Wolfgang Herrndorf jedenfalls so aus. Er hat

"zwei Bücher veröffentlicht, die zwar bei der Kritik gut angekommen, aber kein Verkaufserfolg geworden sind. Er lebt weiterhin in seiner Einzimmerwohnung, isst in der Mensa oder wärmt sich Doseneintopf auf, er hat, was er braucht, er lebt, wie er will, und wenn manchmal die Vögel in seiner Wohnung durchs Fenster einbrechen und herumfliegen, passt das fast malerisch dazu. (…) Herrndorf sitzt weiter an mehreren Manuskripten gleichzeitig, (…) sie wachsen im Umfang immer weiter, aber keines nähert sich wirklich einer Vollendung: Herrndorf bohrt sich stattdessen immer tiefer in seine Texte hinein."

Ein hirneigener, bösartiger Tumor, zu hundert Prozent tödlich

Dann kommt Anfang 2010 die schreckliche Diagnose: Glioblastoma multiforme, ein hirneigener, bösartiger Tumor, zu hundert Prozent tödlich. Zusammen mit seinen Freunden aus dem Internetforum "Die höflichen Paparazzi", einer Art digital-analogem Schreib- und Freundeszirkel, rechnet er aus, wie lange er vermutlich noch zu leben hat: siebzehneinhalb Monate, lautet das niederschmetternde Ergebnis. Doch statt in Verzweiflung stürzt sich Herrndorf beinahe manisch in die Schreibarbeit: Der Roman „Tschick“, zu dem es schon einiges an Vorarbeiten gibt, erscheint noch im gleichen Jahr, ein Jahr später legt er den nächsten Roman vor, und als im Herbst 2011 die siebzehneinhalb Monate vorüber sind, lebt Herrndorf noch immer, nun allerdings unter ganz anderen Umständen:

"Die Ironie der Situation ist Herrndorf klar – jahrelang unter Ausschluss der Öffentlichkeit an nichtsnutzigen Projekten gewerkelt zu haben, so kommt es ihm jedenfalls vor, und ausgerechnet jetzt den Durchbruch zu erleben, als nicht mehr viel Leben übrig ist. (…) 2011 ist das erfolgreichste Jahr seines bisherigen Berufslebens."

Einer schreibt förmlich um sein Leben

Tobias Rüther schildert in seiner detailreichen, mit großer Zuneigung und Empathie verfassten Biographie eindrücklich, wie da einer förmlich um sein Leben schreibt; wie die Schreibarbeit die nötige Struktur gibt, um die Wahrscheinlichkeit zu besiegen und dem Tod noch ein paar mehr Monate abzuringen. Im Angesicht des tödlichen Tumors "Tschick" zu schreiben, eine Hymne auf das Leben, in einer Art Internettagebuch die eigene Krankheit zum Tode schreibend zu begleiten – und noch in den letzten Monaten vor dem Freitod an einer Fortsetzung zu "Tschick" zu arbeiten, die Fragment bleibt – all das macht Wolfgang Herrndorf in der Tat zu einer singulären Erscheinung in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Das Buch, das zu vollenden Herrndorf nicht mehr vergönnt war, aber nicht nur deshalb wie ein Text wirkt, der schon nicht mehr ganz von dieser Welt ist, es endet auf geradezu unheimliche Weise:

"Ich halte die Waffe genau senkrecht hoch und sehe mit offenem Mund der Kugel hinterher, sehe sie steigen, sehe sie immer kleiner und kleiner und fast unsichtbar werden im tiefdunklen blauen Himmel, bevor sie sich aus dem Verschwundensein wieder materialisiert und zu fallen beginnt, millimetergenau zurück in den Lauf der Waffe."

Der Himmel und die Kugel – in der Nacht vom 26. auf den 27. August 2013 hat sich Wolfgang Herrndorf am Hohenzollernkanal mit einer Schusswaffe das Leben genommen. Er wollte in der freien Natur sterben. Und allein.