Buchcover: "Geile Zeit" von Niclas Seydack

"Geile Zeit" von Niclas Seydack

Stand: 04.07.2024, 19:59 Uhr

Niclas Seydack, Jahrgang 1990, wächst zunächst behütet auf. Doch der 11. September 2001 verändert alles – es folgen: Amokläufe, Wirtschaftskrise, Pandemie und Krieg. "Geile Zeit" wirft einen empathischen Blick auf die Generation der Millenials, deren Jugend alles andere als "geil" war.

Niclas Seydack: Geile Zeit. Autobiographie einer Generation
Klett-Cotta/Tropen, 224 Seiten, 22 Euro

"Geile Zeit" von Niclas Seydack

Lesestoff – neue Bücher 16.07.2024 05:43 Min. Verfügbar bis 16.07.2025 WDR Online Von Theresa Hübner


Download

Wenn es für dieses Buch einen Soundtrack gäbe, dann stünde "Die perfekte Welle" der Band Juli sicher ganz oben. 2004 veröffentlicht, da ist Niclas Seydack fast 14 Jahre alt. Das Lied läuft nonstop im Radio, begleitet ihn auf dem Ipod durch den Tag, läuft in der Disco auf seiner ersten Jugendreise nach Südfrankreich - es ist, wie Niclas Seydack schreibt "der erste Hit meines Lebens".

Doch schon kurz nach Weihnachten löst ein Beben im Indischen Ozean einen Tsunami aus. Eine Viertel Millionen Menschen sterben.

"Der Song wurde nicht mehr im Radio gespielt. Und auch auf meinem Ipod sang die Sängerin nicht mehr für jemanden, der ich einmal werden könnte. Sie sang keinen Song, zu dem wir in vielen Jahren aus Hochzeiten tanzen würden, weil er uns voller Sehnsucht an früher erinnern würde. Sie sang von Zerstörung. Von Elend. Von Leid."

Von Spaß zu bitterem Ernst in kürzester Zeit – solche Momente beschreibt Niclas Seydack in "Geile Zeit" immer wieder. Er hat sich einiges vorgenommen in diesem Buch, nicht weniger als die "Autobiografie einer Generation" zu schreiben – und zu dieser Generation, den Millenials, also denen die circa zwischen 1980 und 1996 geboren wurden, gehört er selbst. Aufgewachsen in einem kleinen Ort nahe der Ostsee, ist seine Kindheit zunächst idyllisch - Spielen im Wald, eine Tüte saure Schnüre beim Dorfbäcker, Pokémon gucken, dabei Cornflakes mit warmer Milch aus der Mikrowelle futtern. Bis zum 11. September 2001:

"An diesem Tag saß meine Schwester nicht vor ihren Talkshows. Keine Messie- Eltern bei Andreas Türk, die ihre Teenagertöchter anschrien, weil sie wie "Schlampen" rumliefen. Es liefen Nachrichten. Ich sah, wie ein Flugzeug in ein Hochhaus flog. Schon das zweite, sagte meine Schwester."

Wieder der harte Bruch, der Schock, der alles verändert. Am nächsten Tag gibt es an Niclas‘ Schule eine Schweigeminute für die Opfer der Anschläge. Und nur ein halbes Jahr später noch eine, diesmal für die Opfer des Amoklaufs von Erfurt. Ein Polizist erklärt den Schülern, was sie im Ernstfall tun sollen:

"Tür abschließen. Wenn das nicht ging, einen Stuhl unter die Klinke stellen. In den toten Winkel der Fenster. Unter die Tische. Licht aus, ganz leise sein. Warten. Bis er kommt. Also der Polizist. Er würde den Amokläufer dann erschießen. Also unseren Mitschüler."

"Geile Zeit" ist ein Sachbuch mit romanhaften Zügen. Sehr geschickt verwebt Niclas Seydack seine persönliche Lebensgeschichte von den frühen 1990ern bis ins Heute mit Ereignissen, die seine Generation geprägt haben. Und das waren eine Menge Katastrophen, vom 11. September, bis zum Corona-Lockdown. "Zu viel Weltgeschichte in zu wenig Lebenszeit", schreibt Seydack.

Er referiert all diese Ereignisse nicht nur, sondern seziert Stimmungen und Gefühlslagen. Die Millenial waren die ersten "digital natives", für die das Internet zwar nie Neuland war. Das Netz mit all seinen Möglichkeiten und all seinen toxischen Seiten:

"Sex lernte ich als Vergnügen für Männer kennen. Bei Youporn hatten Frauen vor allem Spaß daran, unterwürfig zu sein. Was im Internet zu sehen war, war doch echt. Bei rotten.com. Die Hinrichtungen und so. Und weil mir in Sachen Sex niemand sonst was beigebracht hatte, kein Lehrer, keine Eltern, keine Mädchen, ahmte ich nach, was sie in den Pornos machten."

Die "Geile Zeit" der Millenials ist nie "geil" – sondern ein ständiges Auf und ab. Mit großen Versprechungen für die Zukunft, die aber nie eingelöst wurden. Es ist eine Zeit, die mit den Witzen von Stefan Raab startete, dann aber eine Krise nach der anderen bereithielt. Terrorismus, prekäre Arbeitsverhältnisse, unbezahlte Praktika und schließlich die ersten Berufsjahre im Lockdown – kein Wunder, denkt man nach der Lektüre, dass die Millenials als besonders melancholisch gelten. Es geht um eine Generation, schreib Seydack, der es nie besser gehen wird als ihren Eltern. Aber hoffnungslos ist er trotzdem nicht:

Wir können für die Jüngeren die werden, die wir nie hatten: die besten Chefs, Lehrer und Eltern, die wir sein können. Es wäre etwas, das uns wirklich stolz machen könnte, unsere größte Lebensleistung, denen nach uns den roten Teppich auszurollen. Damit sie alles werden können, was wir gerne gewesen wären.

"Millenials", die dieses Buch lesen, werden das vielleicht mit einem leichten Schaudern tun. So als würde man seine alten Tagebücher lesen, nur, dass "Geile Zeit" das Tagebuch einer ganzen Generation ist.