Buchcover: "Spatriati" von Mario Desiati

"Spatriati" von Mario Desiati

Stand: 05.07.2024, 15:38 Uhr

Wer nicht so ist, wie die anderen, der hat es schwer in der süditalienischen Provinz. Francesco flüchtet sich in seine Träume, Claudia begehrt auf gegen die Enge in Apulien. In Berlin, wohin es beide zieht, machen sie die befreiende Erfahrung eines Lebens ohne Vorgaben. Mario Desiati erzählt in seinem Roman, der mit dem wichtigsten italienischen Literaturpreis ausgezeichnet wurde, mit Verve von der Lust am Anderssein.

Mario Desiati: Spatriati
Aus dem Italienischen von Martin Hallmansecker
Wagenbach Verlag, 254 Seiten, 24 Euro

"Spatriati" von Mario Desiati

Lesestoff – neue Bücher 17.07.2024 05:16 Min. Verfügbar bis 17.07.2025 WDR Online Von Holger Heimann


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Spatriati, so nennt man in Apulien, im südlichen Italien, Menschen, die anders sind, Abweichler, die den Normen der Gesellschaft nicht genügen. Dem Schriftsteller Mario Desiati, der aus Apulien stammt, ist die Zuschreibung nur allzu geläufig:

"Ich bin 46 Jahre, ich habe keine Kinder, Schriftsteller ist kein Job. Ich bin ein Spatriato."

Mario Desiati hat einen Roman über zwei Spatriati geschrieben. Francesco, aus dessen Perspektive im Rückblick erzählt wird, ist zu Beginn ein sensibler, verträumter Teenager. Das fällt auf in einer patriarchalen Gesellschaft, in der von Männern Härte und Tatkraft erwartet werden. Auch Claudia, in die Francesco verliebt ist, ist eine Außenseiterin. Sie aber begehrt offen auf gegen Zuschreibungen und Traditionen. Voller Hunger nach Intensität und neuen Erfahrungen stürzt sie sich in Beziehungen zu teils deutlich älteren Männern. Francesco hingegen behandelt sie wie einen kleineren Bruder, den sie auf den richtigen Weg bringen will. Vor allem möchte sie ihn aus seinem selbstgenügsamen Leben reißen.

"Sei kein Baby, mach eine Reise, du musst mal von hier weg, wach auf, vielleicht entdeckst du dann Seiten an dir, die du dir jetzt nicht mal vorstellen kannst."

Claudia ist entschlossen, ihrer ungeliebten Heimat den Rücken zu kehren. Ihr Lebensgrundsatz ist es, immer in Bewegung zu bleiben. Wozu sonst haben Menschen Beine? Sie lebt eine Weile in London, in Mailand studiert sie an einer Eliteuni und wird zur erfolgreichen Managerin. Sie hetzt durch ihr Leben. Aber wonach sie sucht, findet sie erst in Berlin.

"Sie hatte ihre Vergangenheit ausgelöscht. Sie redete mit mir nur noch über ihre neue Stadt. Berlin, Berlin, Berlin. Dort war man frei, man liebte sich und verlor sich aus den Augen, man arbeitete und aß, man scheiterte und begann wieder von vorne, ohne sich je wie eine Null zu fühlen."

Francesco folgt Claudia schließlich nach Berlin. Er gibt dafür seine gutgehende Immobilienagentur in Apulien auf. Wie für Claudia so wird auch für ihn Berlin zu einem Erweckungserlebnis. Während Claudia sich zu einer anderen Frau hingezogen fühlt, verliebt er sich in einen Mann. Berlin ist bei Mario Desiati der Ort, an dem sich Phantasien ausleben lassen und die Versprechen nahezu grenzenloser sexueller Freizügigkeit eingelöst werden. Die Stadt wird zum fast schon utopischen Gegenpol eines festgefahrenen und erstarrten Lebens in der italienischen Provinz. Und ebenso zum Gegenstück eines an Geld und Erfolg orientierten kapitalistischen Alltags. Klischeebilder sind da nicht weit. Zuletzt emanzipiert sich Francesco von Claudia. Er fährt zurück nach Apulien, um sich um das Land und die Olivenbäume zu kümmern, die ihm seine Großeltern hinterlassen haben.

"Zurückgekehrt, aber immer noch spatriato«, sagen sie, eine Anspielung darauf, dass ich keine Frau, keine Kinder und auch keinen festen Job habe, dass ich immer auf gepackten Koffern sitze. Ich bin ein Verlorener. Ein Unbehauster, zumindest in ihrem Weltbild."

Der Rückkehrer sieht sich nicht so, nicht als Verlorenen. Im Gegenteil: Er hat zu sich selbst gefunden. Die innere Freiheit, die er auch gegen Widerstände behauptet, macht ihn unabhängiger von den Vorstellungen und Wahrnehmungen der anderen. Als Claudia bei einem kurzen Besuch nur alte Männer, kaputte Straßen, schrottreife Autos, verbrannte Olivenbäume und Müll sieht, verbucht Francesco das unter "Expat-Gejammer". Auch seiner Freundin, die ihm lange immer voraus war, begegnet er so zuletzt auf Augenhöhe.

"Spatriati" feiert mit Verve die Freiheit, anders zu sein. Berlin wird dabei zum Ort der zweiten Chance. So wie die Stadt sich immer wieder wandelt, erleben auch Mario Desiatis Protagonisten die Lust und Leichtigkeit, immer wieder neu beginnen zu können – und so auch Rückschläge und Niederlagen in Siege zu verwandeln.

Italien mag vom Norden aus betrachtet noch immer das Sehnsuchtsland schlechthin sein. Die jungen unbeirrbaren Glückssucher von Mario Desiati zieht es in die gegenteilige Richtung. Dieser Roman weiß zwar darum, dass sich Herkunft nicht abschütteln lässt. Aber vor allem wird er bestimmt von dem Gedanken, dass der Mensch nicht in der Erde wurzelt, sondern im Himmel. Er ist frei, seinen Träumen zu folgen.