Buchcover: "Mitternachtsschwimmer" von Roisin Maguire

"Mitternachtsschwimmer" von Roisin Maguire

Stand: 12.07.2024, 09:08 Uhr

Tiefer Schmerz, eigenwillige Außenseiter und die heilsame Kraft der Natur – Roisin Maguire gelingt es in ihrem Debütroman "Mitternachtsschwimmer", altbekannte Motive neu überraschend zu verarbeiten. Eine Rezension von Andrea Gerk.

Roisin Maguire: Mitternachtsschwimmer
Aus dem Englischen übersetzt von Andrea O’Brien
Dumont, 352 Seiten, 24 Euro.

"Mitternachtsschwimmer" von Roisin Maguire

Lesestoff – neue Bücher 19.07.2024 05:06 Min. Verfügbar bis 19.07.2025 WDR Online Von Andrea Gerk


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Es gibt immer wieder Romane, die allzu offensichtlich aus erfolgsversprechenden Bauteilen zusammengesetzt sind und die einem trotzdem ans Herz wachsen. Elena Fischer Überraschungserfolg "Paradise Garden" ist so ein Fall, genau wie die beiden Bestseller von Caroline Wahl und auch "Mitternachtsschwimmer", der Debütroman von Roisin Maguire. Es geht um tiefen Schmerz, liebenswerte Außenseiter und die heilsame Kraft der Natur. Wobei allein schon der der Schauplatz hinreissend ist: Das zwischen Meer und grünen Hügeln gelegene irische Dörfchen Ballybrady mit seinen schrulligen Bewohnern. Allen voran die zurückgezogen lebenden Grace – eine eigenwillige Erscheinung, deren raue Art schnell ahnen lässt, dass dahinter tiefe Verletzlichkeit steckt. Auch Evan, der eine Woche in Grace‘ ehemaligem Elternhaus, das sie an Feriengäste vermietet, logiert, ist anfangs zutiefst verstört:

"Evan saß in dem zerschlissenen alten Sessel am Fenster, das Handy grell in seinen Fingern, und still. 'Geh heim, Kumpel. Nimm dir so lange eine Auszeit, wie du brauchst', hatte John, sein Geschäftspartner, an jenem Tag vor drei Wochen gesagt, als er Evan unkontrolliert weinend auf der Herrentoilette entdeckt hatte. Sie waren beide unsicher gewesen, hatten einander verstört im Spiegel betrachtet und nicht gewusst, was sie tun sollten."

Das weiß Evan auch nicht, als er in Ballybrady ankommt und langsam Kontakt aufnimmt mit den Einwohnern: Mit Becky, die ihm im kleinen Dorfladen ihre buddhistische Weisheit kostenlos mitgibt, mit den notorischen Säufern, die jeden Tag mürrisch im Pub vor sich hinbrüten, aber wenn es darauf ankommt, das Herz am rechten Fleck haben. Und natürlich mit seiner eigenwilligen Vermieterin Grace und ihrer Nichte Abbie, die vor ihren fiesen Kommilitonen und vor der Covid-Pandemie aufs Land geflüchtet ist. Und schließlich ist da noch Luca, Evans achtjähriger Sohn:

"Als Grace auf das vermietete Haus zukam, entdeckte sie schon von Weitem, dass da eine kleine schmale Gestalt stand und aufs Meer starrte. Der Junge. (…) Sie hätte erwartet, dass er so einen hippen Haarschnitt und diese blöden, weißen Sneakers tragen würde, rumrennen und schreien, die Möwen bewerfen, wegen der Weite einen Koller kriegen, so wie die anderen, diese lärmenden Volltrottel, die kleinen Rotzlöffel. Stattdessen stand er da, schmal und mager vor dem grünen Uferstreifen, die Arme unbedeckt und weiß und starr, die Hände leer. Die Stille dieses Jungen war so ungewöhnlich, so befremdlich, dass der Esel sich bedroht fühlte und bockte."

Um Luca ist diese Stille nicht nur, weil der Junge taub ist, sondern weil seine kleine Schwester gestorben ist, und er glaubt, es sei seine Schuld. Noch dazu ist das Verhältnis zu seinem Vater Evan distanziert und schwierig. Nicht zuletzt, weil Luca nicht ins scheinbar perfekte Familienidyll gepasst hat. Doch nun, wo die Mutter als systemrelevant gilt und sich nicht um ihren Jungen kümmern kann, kommen Vater und Sohn einander näher. Luca entdeckt sein Interesse für Meerestiere; die frische Luft und Bewegung lassen ihn aufblühen und natürlich spielen die unkonventionelle Grace und ihre Nichte keine unbedeutende Rolle dabei der ganzen Entwicklung:

"Der Mann aus der Stadt. Der war auch nicht glücklich. In seinen Augen lag etwas so Finsteres, dass mit ihren tiefsten Abgründen korrespondierte und Dinge ans Licht zerrte, die sie lieber vergessen hätte. Es wurde langsam wirklich zur Belästigung. Normalerweise hatte sie keinerlei Interesse an Menschen, aber er, sein scheuer kleiner Junge und jetzt auch noch das tote Mädchen drängten sich ständig in ihre Gedanken und färbten sie grau."

Was aus Grace und Abbie, Luca und seinem Vater Evan schließlich wird, welche dramatischen Ereignisse sie in Ballybrady noch überstehen müssen und ob sie am Ende doch noch ihr Glück (wieder-)finden, soll selbstverständlich nicht verraten werden. Fest steht aber, dass Roisin Maguire beim Studium für Kreatives Schreiben ihr Handwerk gelernt hat und es ihr gelungen ist, trotz vieler – auf den ersten Blick – durchaus bekannter Motive, einen überraschend frischen, witzigen und dabei herzerwärmenden Roman zu schreiben.