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Der von der Künstlerin Maitre d'Anne de Bretagne geschaffene sogenannte "Dame und das Einhorn"-Behang besteht aus sechs Wandteppichen vom Anfang des 16. Jahrhunderts.

Faszination Einhorn – Julia Weitbrecht

Als Kitschfigur im Kinderzimmer, scheuer Waldbewohner bei Harry Potter oder spiritueller "Energielieferant" bei Meditationen: Das Einhorn taugt bis heute für viele Zuschreibungen. Die Geschichte dieser Faszination hat Julia Weitbrecht bis in die Antike zurückverfolgt.

Gemeinsam mit dem Berliner Philologen Bernd Roling hat die Kölner Literaturwissenschaftlerin sich auf Spurensuche vor allem in der europäischen Kulturgeschichte begeben. Naturkunde, Religion und Medizin haben bis in die frühe Neuzeit die reale Existenz des ebenso rätselhaften wie seltenen Tieres nicht infrage gestellt. Die fehlende Anschauung beflügelte dabei die Fantasie und gab Raum für Spekulationen: von den Heilkräften im Blut und im Horn der Einhörner bis zu deren enger Verbindung zu Jungfrauen.

Was die Recherche für Julia Weitbrecht ans Licht gebracht hat, ist nicht nur eine spannende "Tier"-Kunde, sondern vor allem eine aufschlussreiche Wissensgeschichte: Denn der Blick auf dieses – wie auf viele andere – Tier(e) sei in der Antike und weit darüber hinaus unter dem Aspekt der "Verwertbarkeit" erfolgt, sagt die Forscherin: Dieser spezifisch westliche Zugriff auf die Natur spiegele sich eindrucksvoll in der Beschäftigung mit dem Einhorn: "Wenn wir es schon nicht essen können, wozu könnte es dann noch nützlich sein?"

Bis es der modernen Wissenschaft gelang, das Einhorn als Fabeltier und die vermeintlichen Hörner als Stoßzähne des Narwals zu entlarven, bedurfte es erheblicher Kraftanstrengungen. Trotz aller naturwissenschaftlichen Entzauberung hat sich der Mythos des Einhorns bis heute gehalten – und feiert etwa in der queeren Community unangepasst-regenbogenfarbenfröhliche Urständ.

Buchtipp:

Bernd Roling/Julia Weitbrecht (2023): Das Einhorn. Geschichte einer Faszination. München: Hanser Verlag. 176 Seiten. 24,00 €. ISBN 978-3-446-27610-9

Redaktion: Chris Hulin