Opfer sexualisierter Gewalt in Lüdenscheid schildern ihr Leid

Lokalzeit Südwestfalen 23.09.2024 03:51 Min. Verfügbar bis 23.09.2026 WDR

Opfer sexualisierter Gewalt in Lüdenscheid schildern ihr Leid

Stand: 23.09.2024, 18:29 Uhr

In Lüdenscheid-Brügge hat ein ehrenamtlicher Betreuer der Evangelischen Kirchengemeinde mehr als 30 Jahre lang Minderjährige sexuell missbraucht. So geht es den Betroffenen heute.

Von Claudia RoelvinckClaudia Roelvinck

Wir treffen uns vor dem Gemeindezentrum in Lüdenscheid-Brügge, in dem der Missbrauch begann. Zum ersten Mal seit ihrer Jugend sind Andreas und Markus (Namen von der Redaktion geändert) wieder hier. Sie haben schlimme Erinnerungen an diesen Ort - aber auch sehr schöne.

Kickern, spielen, jung sein

Beide Männer erzählen, wie gerne sie früher zu den Gruppenstunden gekommen sind. Immer montags haben sich die Jungs hier getroffen, gekickert, andere Spiele gemacht, eine gute Zeit gehabt.

Dieses Bild zeigt einen Flyer mit der Aufschrift "Warum Kirche?"

Eine Frage, die viele im Zusammenhang mit den Missbrauchsfällen beschäftigt: "Warum Kirche?"

Doch wenn die Stunden zu Ende waren, begannen die Übergriffe. Weil kein Bus mehr fuhr, brachte der ehrenamtliche Jugendbetreuer die Jungs mit seinem Auto nach Hause. "Und sobald man der letzte war, ging das Thema immer sofort auf Selbstbefriedigung", schildert ein Betroffener.

Übergriffe im Wellenbad

Das war unangenehm, aber man hat immer gedacht: Vielleicht ist das so, wenn man erwachsen wird. Es fühlte sich nicht richtig an, aber wahrscheinlich machen das alle. Ein Missbrauchsopfer aus Lüdenscheid

Es blieb nicht bei diesen intimen Gesprächen. Der Jugendbetreuer wollte die Jungs auch nackt sehen. Er organisierte Treffen im früheren Lüdenscheider Wellenbad. Hier bestand er darauf, sich in einer Sammelumkleide umzuziehen, gemeinsam zu duschen oder in die Sauna zu gehen.

Schaukasten der evangelischen Kirche Lüdenscheid-Brügge

Missbrauch an einem Ort, der eigentlich Schutz bieten sollte

Erst als sie längst erwachsen waren und sich beim Abitreffen an die Montagnachmittage erinnerten, wurde ihnen bewusst, dass sie als etwa 13-Jährige Opfer sexualisierter Gewalt geworden waren. Als Markus und die beiden anderen die Vorfälle der Landeskirche meldeten, fasste auch Andreas den Mut dazu.

Ich hatte große Angst, dass ich der Einzige bin. Andreas über seine Sorgen im Vorfeld

Andreas schildert, was ihn damals bewegt hat: "Wenn ich jetzt irgendwas zur Anzeige bringe, dass er dann sofort weiß, wer ich bin. Auch wegen meiner Mutter, die ja noch hier wohnte."

Täter beging Suizid

Kurz nach der Anzeige 2020 beging der Täter Suizid. Die vier Opfer, die mit uns sprechen, gehören vermutlich zu den ersten, bei denen der damals Anfang 20-jährige Täter ausprobiert hat, wie weit er gehen kann. Spätere Betroffene berichten von massiven Übergriffen, sogar von Vergewaltigungen.

Die evangelische Landeskirche hat eine unabhängige Kommission mit einer Studie zu den Lüdenscheider Missbrauchsfällen beauftragt. Als sie im März vorgestellt wurde, haben Markus und Andreas erstmals erfahren, dass es mindestens 20 Opfer gab - und in der Kirchengemeinde mehrere Mitwisser.

Ein Betroffener sagt: "Da ist mir erst mal die Spucke weggeblieben."

Was da alles passiert ist, wie oft man hätte einschreiten können, wie viel Leid hätte verhindert werden können. Ich hab da fast geheult, als ich das gesehen hab. Ein Missbrauchsopfer war entsetzt vom Ausmaß der Enthüllungen

Schulungen für alle Mitarbeiter

Eine Kirche mit dunklem Gemäuer

Die evangelische Kirche in Lüdenscheid-Brügge

Für die damaligen Pfarrer hat die Studie bislang keine Konsequenzen. Die Landeskirche, der Kirchenkreis und die Gemeinde erarbeiten nun Konzepte, wie Kinder und Jugendliche besser geschützt werden können. Alle Haupt- und Ehrenamtlichen sollen geschult werden.

Die Opfer von damals leiden bis heute: nicht nur unter den Taten, sondern auch darunter, dass sie bis heute durch ihre Anzeige innerhalb der Gemeinde als Nestbeschmutzer gelten. Inzwischen lebt niemand von ihnen mehr in Lüdenscheid.

Opfer sexualisierter Gewalt in Lüdenscheid fordern Aufarbeitung

WDR Studios NRW 26.03.2024 00:49 Min. Verfügbar bis 26.03.2026 WDR Online Von Claudia Roelvinck


Unsere Quellen:

  • Gespräche mit den Geschädigten
  • Studie der evangelischen Landeskirche