Kibbuz in Westfalen: Ein Bauernhof als Sprungbrett in die Freiheit

Stand: 26.01.2023, 20:00 Uhr

In der Nähe von Westerkappeln im Münsterland liegt ein Bauernhof, der früher einmal "Judenhof" genannt wurde. Hier lebten zwischen 1934 und 1938 fast 100 jüdische Jugendliche, um Land- und Hauswirtschaft zu erlernen. So vorbereitet sollten sie nach Palästina auswandern und sich dort eine Existenz aufbauen können.

Von Markus Schröder

In Westerkappeln wussten einige ältere Bürger noch von dieser Geschichte, Details kannte aber niemand. So blieb Historiker und Journalist Gisbert Strotdrees nur, im Stadtarchiv der Kommune im Kreis Steinfurt zu forschen. Dabei stieß er auf Dokumente, die ein genaueres Bild zeichnen.

Junge Juden aus ganz Deutschland

Eine Frau auf einem Acker, die Hühner füttert.

Auf den Hachschara-Höfen lernten jüdische Deutsche Land- und Hauswirtschaft.

In den örtlichen Akten findet sich eine Liste der Jugendlichen, die auf dem Hof gelebt haben. Aus ihr geht hervor, dass die jungen Leute zwischen 14 und 25 Jahren alt und aus ganz Deutschland - sogar von Berlin oder Leipzig aus - ins Münsterland gekommen waren. Zwei Drittel von ihnen waren männlich, ein Drittel weiblich. Einige blieben nur wenige Monate, andere mehrere Jahre.

Eine Frau, die Eier sortiert und verpackt.

Auf dem Hof in Westerkappeln waren zwei Drittel der Bewohner männlich, ein Drittel war weiblich.

Gisbert Strotdrees findet heraus, dass es überall in Deutschland solche "Hachschara-Höfe" gegeben hatte. Hachschara ist Hebräisch und bedeutet so viel wie Vorbereitung. Auf diesen Höfen - organisiert vom jüdischen Pfadfinderbund -  bereiteten sich Jugendliche auf ihre Emigration vor. Es waren Höfe, die quasi ein Sprungbrett in die Freiheit waren.

Das Ende der Hachschara-Höfe

In den 1930er Jahren war die Ausreise für jüdische Menschen noch möglich, das sah nach Kriegsbeginn 1939 ganz anders aus. Den Hachschara-Hof in Westerkappeln gab es da schon nicht mehr.

Drei Frauen in einer Küche, die Kartoffeln schälen.

Die jungen Leute kamen aus ganz Deutschland und waren zwischen 14 und 25 Jahre alt.

Als die SA in der Reichspogromnacht 1938 überall in Deutschland Synagogen, jüdische Geschäfte und Wohnungen überfiel, blieb auch der "Judenhof" im Münsterland nicht verschont. Vier Jugendliche, ein Verwalter und der Besitzer des Hofes, ein jüdischer Pferdehändler, wurden verhaftet und nach Buchenwald deportiert.

Der Besitzer des Hofes, der die Shoah überlebte, berichtete nach dem Krieg, die SS habe ihn gefoltert. Die Nazis stellten ihm ein Ultimatum: Nur wenn er den Hof verkaufe, könne er aus dem KZ freikommen. Im Dezember 1938 willigte er ein und gab den Hof auf.

Viele Schicksale sind unklar

Gisbert Strotdrees wollte auch herausfinden, was mit den 97 Jugendlichen geschah, die auf dem Hof gelebt und gelernt hatten. Bei zehn von ihnen steht fest, dass sie im Holocaust umgebracht wurden.

Ein Mann recherchiert am Laptop im Archivbüro.

Journalist und Historiker Gisbert Strotdrees auf Spurensuche.

Der Großteil hat aber tatsächlich überlebt, erfuhr der Historiker. Etliche konnten ausreisen, zum Beispiel nach Israel oder in die USA. Genaueres ist über die meisten ehemaligen Hachschara-Bewohner von Westerkappeln bislang nicht bekannt. Nur einige wenige Schicksale konnte Strotdrees klären.

Nach Flucht selbst zum Retter geworden

Ein Schwarz-Weiß-Porträtfoto von einem Jungen in einer Akte.

Gert Löllbach reiste nach seiner Zeit in Westerkappeln nach Schweden aus.

Zum Beispiel das von Gert Löllbach: Dem jungen Mann gelang nach seiner Zeit auf dem Bauernhof bei Westerkappeln die Ausreise nach Schweden. Da wurde er dann selbst zum Retter für Hunderte jüdische Menschen. Zusammen mit anderen jüdischen Widerständlern organisierte er Fischerboote für die Flucht über den Öresund.

Über dieses Thema haben wir am 26.01.2023 in der Lokalzeit Münsterland im WDR Fernsehen berichtet.