Industrie in der Krise: Wo werden Arbeitskräfte noch gebraucht?
Stand: 26.11.2024, 15:33 Uhr
Thyssenkrupp plant einen großen Stellenabbau: Ist der Job des klassischen Industrie-Facharbeiters am Ende? Die Lage ist schwierig, aber bei Weitem nicht hoffnungslos. Auf diese Entscheidungen komme es jetzt an.
Von Oliver Scheel
Kahlschlag bei Deutschlands größter Stahlfirma: Thyssenkrupp will bis 2030 11.000 Jobs abbauen, der gesamte Produktionsstandort in Kreuztal bei Siegen soll geschlossen werden. Ist das der Anfang vom Ende der klassischen Industrieproduktion in NRW? Die Industrie ist im Wandel, gerade in NRW. Doch das bedeute noch lange nicht das Ende der Industrie-Fachbetriebe. Es kann durchaus eine hoffnungsfrohe Zukunft geben, wenn Wirtschaft und Politik jetzt gute Entscheidungen treffen, meinen Experten.
"Das sind erstmal nur Pläne", sagt WDR-Wirtschaftsexperte Wolfgang Landmesser über die Einsparungen von Thyssenkrupp. "Wie viele der 11.000 Menschen dann wirklich auf dem Arbeitsmarkt landen, wird man sehen. Der demografische Wandel wird da schon einiges auffangen", sagt er.
Deutsche Wirtschaft: "Da ist etwas in Schieflage geraten"
Dr. Thomas Obst vom Institut der deutschen Wirtschaft
Aber klar ist auch: Die Wirtschaft in NRW steckt in einer kritischen Lage. Und nach wie vor ist es das produzierende Gewerbe, das besonders betroffen ist. Das geht auch aus dem aktuellen Konjunkturbericht der IHK NRW hervor. "Wir sehen, dass bei der energieintensiven Produktion Vieles verloren geht", sagt Thomas Obst vom Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) im Gespräch mit dem WDR. Deutschland leide in großem Maße unter dem Energiepreisschock nach dem Beginn des Ukrainekriegs. "Die Erzeugerpreise im verarbeitenden Gewerbe liegen 40 Prozent über Vorkrisenniveau." Und dabei seien die Energiepreise ein treibender Faktor, aber auch die hohen Tarifabschlüsse.
"Da ist etwas in Schieflage geraten. Die Robustheit der Industrie ist verloren gegangen", so Obst. Und das sehe man nun am Arbeitsmarkt und an der Arbeitslosenquote.
Ganz so schwarz sieht es Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg nicht. "Die etablierte Industrie gerät unter Druck. Sie baut pro Monat etliche tausend Jobs ab, bereits jetzt. Aber technisch gut qualifizierte Leute sind knapp. Wir haben also einen Wirtschaftsabschwung und trotzdem Arbeitskräfteknappheit. Das ist das Neue. Für die grüne Transformation werden wir diese technischen Jobs brauchen. Elektro, Energie, Maschinenbau, Chemie, das sind die Bereiche, die Mitarbeitende brauchen werden," erklärt Weber gegenüber dem WDR.
Weber sieht sowohl die Wirtschaft als auch die Politik in der Pflicht: "Wenn wir eine Wirtschaftspolitik initiieren, die die Industrie voranbringt, die Neugründung und Innovation fördert, dann brauchen wir keine großen Umschulungsprogramme", so Weber. In den Bereichen Infrastruktur, Wasserstofftechnik, Erneuerbare Energien und im Handwerk für die Energiewende würden bis zu 400.000 neue Jobs entstehen.
Unterstützung für neue Firmen gefordert
Viele aufstrebende Bereiche könnten derzeit aber noch nicht die Löhne zahlen, die die etablierte Industrie zahlen könne. Deshalb sollten sich "kurzfristig Arbeitspolitik und die abgebenden Firmen zusammenschließen". Die Unternehmen sollten keine goldenen Handschläge bei den Abfindungen verteilen, die "entziehen der Wirtschaft nur die Arbeitskräfte", eher sollten Politik und Industrie neue Zweige fördern und diese mit geteilten Beiträgen unterstützen. "Auch die Großen waren mal innovative Kleine", so Weber. Die bräuchten nun eben Unterstützung.
Wolfgang Landmesser aus der WDR-Wirtschaftsredaktion
WDR-Wirtschaftsexperte Wolfgang Landmesser sieht eine Veränderung der Wirtschaftsstruktur. "Wir gehen weg von den klassischen Industriearbeitsplätzen. Es ist noch nicht klar, wie sich der Arbeitsmarkt verändert." So könne es schon sein, dass es manch ein Thyssenkrupp-Angestellter auf dem Arbeitsmarkt schwer haben könnte "Und vom Stahlarbeiter zum Umwelttechniker ist es ein weiter Weg", bemerkt er.
Zauberwort "Unternehmensnahe Dienstleistungen"
Auch Thomas Obst vom Institut der deutschen Wirtschaft ist nicht sicher, wie viele neue Jobs in der grünen Technologie entstehen. "Es ist unklar, ob sie jobintensiv wird, es gibt da eine starke Automatisierung." Weiterhin sei unklar, ob grüne Technologien wertschöpfungssteigernd seien. Ein grünes Wirtschaftswunder sieht er jedenfalls nicht.
Die Stahlindustrie, ein Herzstück des Ruhrgebiets, ist mitten im Wandel.
Aber: Deutschland wandelt sich zu einer Dienstleistungsgesellschaft. Und mit unternehmensnahen Dienstleistungen könne einiges kompensiert werden. "Der Dienstleistungssektor ist expansiv," so Obst. Bosch verkaufe zum Beispiel importierte Produkte an seine Geschäftskunden. Die Wartung und Kundenbetreuung würden dann hier in Deutschland von Arbeitnehmern geleistet werden. Die Firma Würth habe sogar ein eigenes Logistiksystem aufgebaut. Darin sieht Obst Chancen für neue Jobs im Dienstleistungsbereich.
Laut IHK-Konjunkturbericht greifen gerade strukturelle und konjunkturelle Risiken ineinander. Die Industrie steckt nicht nur in der Krise, sondern eben auch in einer Transformation. Und daraus, so sind sich die Experten einig, kann viel Neues entstehen.
Unsere Quellen:
- Gespräch mit Thomas Obst vom Institut der Deutschen Wirtschaft
- Gespräch mit WDR-Wirtschaftsexperte Wolfgang Landmesser
- Gespräch WDR5 mit Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg
- Aktueller Konjunkturbericht IHK NRW
Über dieses Thema berichten wir auch im WDR-Fernsehen: Aktuelle Stunde am 26.11.2024, 18.45 Uhr