Die Gedenkstätte mit Blumen, Schildern und Kerzen, davor stehen einige Menschen

Nach Solinger Anschlag: "Ein Vollpfosten hat unseren Ruf ruiniert"

Stand: 27.08.2024, 18:20 Uhr

An Tag vier nach dem offenbar islamistisch motivierten Anschlag in Solingen scheint alles wie immer – die Sonne scheint, die Cafés sind geöffnet. Doch das ist nur der Eindruck auf den ersten Blick.

Von Alex Becker

Biegt man am Alten Markt um die Ecke, sieht man vor der Gedenkstätte an der evangelischen Stadtkirche immer mehr Blumen, Schilder und Kerzen. Gerade stehen mindestens zehn Menschen davor und halten inne. Denn es ist eben doch nichts mehr so, wie es vorher war. 

Das sagen mir auch Figen, Isabel und Astrid. Die drei sitzen beim Frühstück im Café am Entenpfuhl. Dort, wo sich am Sonntag der mutmaßliche Täter gestellt hat. Daran erinnert hier nichts mehr – auch die Polizeipräsenz in der Stadt hat deutlich abgenommen.

Sorge um Generalverdacht aller Migranten

Drei Frauen sitzen an einem Tisch und essen

Figen, Isabel und Astrid sprechen über den Anschlag

Bei den drei Frauen stehen arabische Leckereien auf dem Tisch - die Nachbarinnen haben sich zum Austausch getroffen. Das Thema des Morgens natürlich: der Anschlag und die Folgen. Und die seien groß, sagt Figen. Sie ist 39 und ihre türkischen Großeltern sind vor Jahrzehnten nach Solingen gekommen. Sie trägt Kopftuch, hat aber einen deutschen Pass. Und fühlt sich als Solingerin. "Es macht mich so wütend, dass so ein einzelner Vollpfosten jetzt unseren ganzen Ruf ruiniert."

Es sei eigentlich wie in der Schule, sagt Isabel. Einer hat's gemacht und alle anderen werden unter Generalverdacht gestellt – nur, weil sie Schüler sind. Hier seien es eben Menschen mit Migrationshintergrund. Isabel ist 35, gebürtige Deutsche, die zum Islam konvertiert ist. Ihr Mann ist Albaner und sie wollte die Religion mit ihm teilen.

Viel Misstrauen nach Anschlag

"Aber nur, weil man einen anderen Glauben hat und ein Kopftuch trägt, ist man doch nicht anders", sagt sie. Klar, auch sie kennt die Anfeindungen, die es sowieso im Alltag gibt. Oft sind es ältere Leute. Eine Frau habe mal gesagt: "Guck mal, die Viecher!". Das tue schon weh, sagt sie. Und trotzdem gehe sie immer freundlich und fröhlich durch die Welt. Oft extra höflich, damit es gar nicht erst zu Kritik kommen kann.

Astrid ist die dritte im Bunde – bio-deutsch, wie man heute sagt. Die drei sind enge Freundinnen, sie wohnen alle zusammen in einer Siedlung an der Haaner Straße in Solingen-Wald. "Da leben Christen, Muslime und Juden nebeneinander – friedlich." Und man halte zusammen. Jetzt aber sei wieder alles anders, man müsse sich wieder "rehabilitieren", obwohl man gar nichts getan habe.

Das macht die drei wütend. Denn viele schauten jetzt wieder skeptisch: "Ist das ein Flüchtling? Erst, wenn wir in astreinem Deutsch antworten, dann sind die Leute wieder normal."

"Wir Ausländer sagen: Diese Ausländer müssen raus"

Ömer Ünsal im Portrait

Ömer Ünsal, Hochzeitsplaner

Als ich Ömer Ünsal heute auf das Thema anspreche, wird er schnell ein bisschen laut. Ömer ist Hochzeitsplaner, stemmt jedes Wochenende Veranstaltungen mit mehreren hundert Menschen – vor allem türkischen Menschen. Die türkische Hochzeit wird immer deutscher, sagt er. So wie er selbst. Er nennt sich "maximal integriert" – lebt in dritter Generation türkischer Gastarbeiter in Solingen. Er ist Unternehmer mit vielen türkischen, aber auch deutschen Kunden.

Das Wochenende hat ihn aufgewühlt. "Ich bin wirklich geschockt und fühle mich im Moment gar nicht wohl hier in Solingen. Es geht mir schon seit langem so: wenn man mal abends durch Solingen läuft, was da für Gestalten rumlaufen, da fühlt man sich einfach nicht mehr sicher."

Ich erwäge wirklich, vielleicht auszuwandern aus Deutschland. Ömer Ünsal, Hochzeitsplaner in Solingen

Und das gehe auch vielen seiner Kollegen und Freunden so. "Das kann doch nicht sein, dass wir als ehemalige Ausländer sagen: diese Ausländer müssen raus".

Syrer berichten von Angst vor Ausweisung

Yilmaz von der Seite, mit seiner Tochter hinter ihm auf dem Arm

Yilmaz mit seiner Tochter auf dem Arm

Ortswechsel: Ich mache mich nochmal auf den Weg in die Konrad-Adenauer Straße. In Solingen so etwas wie das "arabische Viertel". Frisöre, türkische Cafés, Wettbüros und kleine Supermärkte. Ich treffe auf Yilmaz. Er ist 49 und wohnt sogar in der Straße. Auf dem Arm trägt er seine kleine Tochter. Er ist Türke, seit 40 Jahren in Deutschland und lebt gerne hier.

Die anderen (er zeigt die Straße runter) allerdings im Moment nicht. Der Großteil der Läden hier werde von Syrern betrieben. "Die haben Angst – spätestens jetzt nach diesem Wochenende", sagt er, "dass sie abgeschoben werden, das Land verlassen müssen, wo sie eine Heimat gefunden haben". Darüber sprächen im Moment alle.

Er nimmt mich mit zu Mohamed. Der 21-Jährige betreibt einen Lebensmittelladen – seit zehn Jahren ist er hier. Er ist stolz auf seine Selbständigkeit, und auf das, was er alles hier geschafft hat. "Das alles macht mich so wütend", sagt er. "Wir sind doch alle hierhergekommen, um Freiheit und Frieden zu haben." Die Religion, die könne jeder für sich zuhause ausüben, das müsse doch keinen kümmern. "Ich will keinen Stress", aber jetzt habe man den wieder. Das Leben werde auf jeden Fall jetzt schwerer. Schon in den letzten Jahren habe man es nicht leicht gehabt, mit syrischem Namen bei einer Wohnungsbewerbung oder für einen neuen Job. Aber jetzt…. 

Integrationsarbeit nach Anschlag weiter erschwert

Hassan Firouzhkah im Portrait

Hassan Firouzhkah, Chef des Integrationsrates in Solingen

Hassan Firouzhkah aus Solingen kämpft seit 25 Jahren gegen anitmuslimisch motivierte Straftaten. Er ist vor 40 Jahren aus dem Iran geflüchtet – seitdem lebt er in Solingen. Als Jugendlicher ist er allein gekommen, kann also viele Geschichten der aktuellen Flüchtlinge nachvollziehen. Der Anschlag sei ein politischer Akt gewesen, sagt er heute. Nach dem Schock komme nun die Frustration für ihn. Als Chef des Integrationsrates kümmert er sich seit Jahrzehnten leidenschaftlich darum, Menschen, die nicht aus Solingen stammen, mit einzubinden.

Aber so komme man in dieser Stadt nicht zur Ruhe. "Das, was am Wochenende passiert ist, macht es nicht leichter. Ich habe wirklich kurz überlegt, mein Engagement an den Nagel zu hängen. Aber dann – das kann es ja auch nicht sein. Wir müssen weiter kämpfen", sagt er ein bisschen niedergeschlagen. So etwas reiße einen tiefen Spalt zwischen Migranten und Einheimische; die Debatte werde wieder neu befeuert.

Man müsse jetzt konkret Täter und Probleme benennen und dann handeln – nicht pauschal urteilen. Der Populismus müsse aufhören. Im Moment aber stehen noch Angst und Verzweiflung im Vordergrund. "Wir müssen jetzt erstmal zur Ruhe kommen."

Quellen:

  • Recherchen und Interviews unserer Reporterin vor Ort