Leben mit Contergan-Schäden: Zwei Kölner berichten

Stand: 01.10.2022, 06:00 Uhr

Vor genau 65 Jahren, am 1. Oktober 1957, kam das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan auf den Markt. Es wurde auch schwangeren Frauen verordnet. Tausende Kinder kamen mit Fehlbildungen zur Welt. So wie Udo Herterich und seine Frau Claudia Schmidt-Herterich aus Köln.

Von Anke Bruns

Claudia Schmidt-Herterich (60) schiebt in ihrer Wohnung in Köln-Rodenkirchen mit den Füßen einen Kulturbeutel vor sich her. Die Kölnerin hat keine Arme und nur kleine Finger an den Schultern. Sie sitzt im Rollstuhl. Aber noch nicht lange. "Bis vor vier Jahren konnte ich noch laufen. Dann wollte mein Rücken nicht mehr. Das liegt sicher daran, dass ich immer mit meinen Füßen meine Haare gewaschen oder Fenster geputzt habe. Verrückte Sachen eben, was man in jungen Jahren so macht. Aber die Rechnung kommt."

Als sie den Kulturbeutel mit den Zehen vom Boden hebt und in einen Koffer legt, zieht ihr Mann Udo (61) kurz die Brauen hoch. "Pass auf, dass du dich nicht wieder übernimmst." Wenn sich seine Frau verausgabt, wird sie später starke Schmerzen haben. Ihm selbst geht das nicht anders.

Umzug in die Großstadt

Udo Herterich hat zwar Arme, aber keine Beine. Auch er sitzt im Rollstuhl. Seit 26 Jahren sind die beiden verheiratet und vor dreieinhalb Jahren von Rösrath nach Köln gezogen. In der Großstadt könnten sie besser alt werden, als auf dem Land, sagen sie. "Wenn wir von Rösrath aus etwas unternehmen wollten, war das immer sehr aufwändig. Bis die beiden Rollstühle im Auto waren und wir starten konnten, war locker eine halbe Stunde rum", sagt Udo Herterich. "Und wir wollten nicht zu Hause vereinsamen. Hier müssen wir einfach nur vor die Tür gehen und sind mitten im Leben."

Ihre große Vier-Zimmer-Wohnung in Köln-Rodenkirchen haben sie barrierefrei ausgestattet und ihren Bedürfnissen angepasst. Die große Wohn- und Ess-Küche ist komplett auf Rollstuhlhöhe abgesenkt. Die Badewanne liegt dafür etwas höher als gewöhnlich und hat eine Seitentür, so dass Udo Herterich direkt von seinem Rollstuhl aus in die Wanne rutschen und die Tür von innen schließen kann. Und Claudia Schmidt-Herterich kann in der Dusche nebenan an den Touch-Armaturen mit den Füßen das Wasser an- und ausschalten. "Das ist das Beste in dieser Wohnung überhaupt", sagt sie.

Plötzlich versagen die Hände

Von den 5.000 Kindern, die Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre in Deutschland mit Contergan-Schäden zur Welt gekommen sind, leben noch etwa 2.400. Die meisten von ihnen sind längst verrentet und bekommen, je nach Behinderung, eine zusätzliche Contergan-Rente.

Claudia Schmidt-Herterich arbeitet noch als Psychologin - allerdings nur noch in Teilzeit. Sie müsse täglich einen Medikamentencocktail schlucken, sagt sie, um die Schmerzen, die im Alter mehr werden, aushalten zu können. Ihr Mann ist schon lange in Rente. Ihm passiert es im Alltag immer wieder, dass seine Hände plötzlich versagen. "Da fällt mir zum Beispiel ein Glas aus der Hand und ich weiß nicht, warum." Seine Gelenke seien teilweise so steif geworden, dass er nicht mal mehr ein Hemd auf- und zuknöpfen kann. Doch statt keine Hemden mehr zu tragen, lässt er einen Schneider die Knöpfe gegen Druckknöpfe austauschen. So suchen er und seine Frau immer wieder Lösungen, um nicht auf alles verzichten zu müssen.

 "Unsere Körper lassen immer mehr nach. Wir sind zwar Anfang 60, aber auf dem Stand von 80-Jährigen", sagen sie. Und auf das, was auf sie noch zukommt, bereiten sie sich ständig vor. Sie testen jetzt schon alle möglichen Hilfsmittel, um sie spätestens dann einsetzen zu können, wenn sie sie brauchen. Ihre jüngste Errungenschaft: ein Ganzkörperfön.

Reisen für den Glückstopf

Alt und gebrechlicher werden, das ist für die meisten Contergan-Geschädigten schon länger ein großes Thema. Claudia Schmidt-Herterich und ihr Mann Udo stellen sich immer wieder neu darauf ein. Der große Garten in Rösrath war ihre Leidenschaft. Aber ihnen fehlte die Kraft, ihn zu pflegen. Jetzt erfreuen sie sich an ihrem üppig begrünten Balkon, den sie zumindest teilweise noch gut selbst in Schuss halten können.

"Ich glaube, wir kommen besser mit dem Altwerden klar als ältere Menschen, weil wir noch flexibler im Denken sind, der Prozess hat viel früher angefangen und man konnte sich auch mental darauf einstellen", sagt Claudia Schmidt-Herterich.

Solange die beiden Kölner können, verreisen sie viel. Im Flur ihrer Wohnung hängen unzählige Bilder von ihren großen Reisen. Erst kürzlich waren sie in den USA, Wale beobachten. Das seien alles Investitionen in ihren persönlichen "Glückstopf", sagen sie. Denn wenn der gut gefüllt sei, käme man im Alltag auch besser mit dem Altwerden zurecht.