Interview: Ein Missbrauchsopfer spricht über sexuelle Gewalt

Stand: 03.08.2022, 10:51 Uhr

Teil 2/2 - Interview: Ein Missbrauchsopfer spricht über sexuelle Gewalt, Teil 2

WDR: Sie sind dem Täter ja im Prozess wieder gegenüber getreten. Wie war das?

Jonah: Als ich gemerkt habe, wie er da reingekommen ist und wie ich da saß, habe ich mich total gestärkt gefühlt und dachte: Ich bin freiwillig hier und er nicht. Ich habe das irgendwie im Griff. Und er nicht, er muss sich dem aussetzen. Er würde am liebsten natürlich nicht da sein. Und das hat ihn in meinen Augen irgendwie total klein gemacht. Jemand, vor dem ich auch schon große Angst hatte, war auf einmal gar nicht mehr so mächtig, wie ich das immer angenommen hatte. Das wurde alles in eine andere Perspektive gerückt. Ich hatte gefühlt total viel Kontrolle. Und das hat mir dann total die Kraft gegeben.

"So eine Entschuldigung. Das konnte ich so nicht akzeptieren." Jonah

WDR: Hat es irgendwas in Ihnen ausgelöst, dass er am Ende ihrer Ausführungen erwidert hat: 'Tut mir leid, dass ich dein Leben kaputt gemacht habe'?

Jonah: Ich glaube, das spricht für sich. Ich glaube, dass er sich mit so einer Aussage viel Kraft verleiht. Indem er sagt, dass er überhaupt in der Lage ist, mein Leben kaputt zu machen. Das spricht einfach dafür, dass er, glaube ich, total die Kontrolle sucht. Und dass er auch in so einem Moment nicht loslassen kann, bei so einer Entschuldigung. Das konnte ich so nicht akzeptieren.

Ein junger Mann erzählt in einem Interview von einer Missbrauchserfahrung in seiner Kindheit. Er ist unkenntlich auf dem Bilschirm der Kamera zu sehen, die das Interview filmt.

Nach seiner Aussage vor Gericht hat Jonah einem Interview zugestimmt.

WDR: Er war ja ein Freund der Familie. Was war das für eine Stellung, die er hatte, die diese Taten über so eine lange Zeit möglich gemacht hat?

Jonah: Ich denke nicht, dass er Freund der Familie war. Er war auf jeden Fall Teil der Familie. Auch wenn er nicht leiblich mit mir verwandt ist, war er trotzdem immer da. Bei jedem Familienurlaub, bei jedem Familienfest. Ich bin aufgewachsen und er war halt immer dabei.

WDR: Und hat das dann ausgenutzt, dass er Teil der Familie war?

Jonah: Ja. Als er in unsere Familie gekommen ist, war ich etwa vier oder fünf Jahre alt. Und das hat wenige Monate gedauert, so wie wir das zurückverfolgen können, bis dann die ersten Taten angefangen haben. Ich würde da von einem sehr geplanten Verhalten ausgehen.

"Es wäre jetzt vermessen zu sagen, dass ich weiß, was in seinem Kopf vorgeht. Das möchte ich mir nämlich gar nicht vorstellen." Jonah

WDR: Sie haben von Macht gesprochen, die der Täter hatte. Ist dieses Gefühl bei ihm gewachsen, als er über so lange Zeit diese Taten verüben konnte?

Jonah: Es wäre jetzt vermessen zu sagen, dass ich weiß, was in seinem Kopf vorging. Das weiß ich natürlich nicht. Zum Glück. Das möchte ich mir nämlich gar nicht vorstellen. Aber ich glaube, dass dieser Machtmissbrauch einfach der entscheidende Punkt ist. Jemanden gegenüber zu haben, der sich nicht wehren kann, der keine Ressourcen hat, für sich selber einzustehen. Und das sind in den meisten Fällen natürlich Kinder.

WDR: Sind Sie den Täter 'losgeworden'?

Jonah: Räumlich gesehen bin ich ihn losgeworden. Er ist nicht mehr Teil unserer Familie. Aber natürlich ist das ein Prozess.

WDR: Hat Ihre Familie das, was passiert ist, 'überlebt'?

Jonah: Ja. Auf jeden Fall.

WDR: Das ist ja auch nicht selbstverständlich.

Jonah: Nein. Und da war auch die Angst, die mich so lange zurückgehalten hat, irgendwas zu sagen, das überhaupt in meiner Familie zu teilen. Weil ich dachte, dass ich am Ende entweder alleine dastehe oder alles auseinanderbricht. Aber dass sich dann alle so mit mir solidarisiert haben, das war für mich gar nicht selbstverständlich.

Ein junger Mann, welcher in seinem Leben Opfer sexuellen Missbrauchs wurde, schaut aus einem Fenster heraus auf weitere Gebäude. Er ist von hinten zusehen und zusätzlich unkenntlich gemacht.

Zu oft gehe es um die Täter, aber nicht um die Schicksale der Opfer, sagt Jonah.

WDR: Wie geht es Ihnen heute?

Jonah: Der Prozess ist noch nicht lange her. Ich denke viel darüber nach, mir geht es ganz okay. Ich bin stabiler denn je. Ich kriege mein Leben gut in den Griff und habe gute Unterstützung. Aber klar, das ist noch nicht vorbei. Da gibt es noch viel, was ich mache, Traumatherapie zum Beispiel. Da habe ich ganz große Hoffnungen, dass das noch mal viel verändert. Aber natürlich habe ich noch viele Probleme damit.

"Es war natürlich auch im Interesse des Täters, wenn man nicht ihn dafür verantwortlich macht, sondern sich selbst." Jonah

WDR: Sind Sie auf dem Weg, so langsam mit sich selbst ins Reine zu kommen?

Jonah: Überwunden? Nein. Auf dem Weg auf jeden Fall. Dass sich das ständig verbessert, aber dass ich trotzdem dazu neige, mich selber für viele Sachen verantwortlich zu machen, für die ich vielleicht gar nicht so verantwortlich bin. Oder Schuld auf mich zu nehmen, die ich gar nicht trage. Weil da die Grenzen einfach so verschwimmen. Es war natürlich auch im Interesse des Täters, wenn man nicht ihn dafür verantwortlich macht, sondern sich selbst. Weil man das dann an sich selbst raus lässt anstatt denjenigen dafür verantwortlich zu machen, der es eigentlich ist. Da habe ich sehr, sehr lange gebraucht, um das nur im Ansatz zu verstehen.

WDR: Wie wichtig war der Schritt, sich zu öffnen? Darüber zu sprechen?

Jonah: Total. Ich hatte immer diese Illusion, dass ich dieses große Geheimnis mit mir rumtrage. Wie so eine Art kleine Schatztruhe in mir drin. Die ich selber unter Kontrolle und unter Verschluss halte. Wo ich im Stillen so drunter leiden kann. Aber dann ist mir aufgefallen, dass das eigentlich total schlecht ist. Und dass mir das total geholfen hat, darüber zu sprechen.