Phase der Entbehrungen: Was droht und wie geholfen werden kann

Stand: 22.06.2022, 22:11 Uhr

Finanzminister Christian Lindner (FDP) hat die Bürger auf eine jahrelange Phase der Entbehrungen eingeschworen. Aber wie kann die Ausbreitung von Armut in Deutschland verhindert werden?

Von Oliver Scheel

"Meine Sorge ist, dass wir in einigen Wochen und Monaten eine sehr besorgniserregende Situation haben könnten", sagte Lindner im ZDF. Es gehe um drei bis vier, vielleicht fünf Jahre der Knappheit.

"Es besteht die Gefahr einer sehr ernstzunehmenden Wirtschaftskrise aufgrund der stark gestiegenen Energiepreise, aufgrund der Lieferketten-Probleme, aufgrund auch der Inflation", so Lindner. Vor allem die Energiepreise würden so schnell nicht wieder sinken. Die Inflation will man nun mit steigenden Zinsen in den Griff bekommen. Aber auch hier sind die Prozesse langwierig - und ein Erfolg ist nicht garantiert.

Armut schon vor dem Ukraine-Krieg weit verbreitet

Fünf Jahre? Wie sollen Menschen, die kein Erspartes auf dem Konto haben, sich so lange über Wasser halten können? Daten aus dem Mikrozensus zufolge hatten 16,1 Prozent der Menschen im Jahr 2020 - also vor dem Ukraine-Krieg - ein Einkommen, das unter der sogenannten Armutsgefährdungsschwelle liegt. Für Alleinlebende etwa lag sie 2020 bei 15.602 Euro pro Jahr. Diese Schwelle ist nicht der einzige, aber ein wichtiger Anhaltspunkt für Armut.

Was tut die Regierung bereits?

Bisher hat die Regierung den Tankrabatt und das 9-Euro-Ticket als Entlastung bei der Mobilität auf den Weg gebracht. Dazu erhalten die Bürger aus dem Entlastungspaket eine Energiepreispauschale von 300 Euro. Das alles sind Maßnahmen, die auch Gutverdienern zugutekommen. Hartz-IV-Empfänger bekommen einen einmaligen Zuschuss von 200 Euro.

Die Industrie soll nach dem Willen von Lindner eine Verlängerung der Strompreiskompensation erhalten, die es für einige Konzerne noch bis Ende des Jahres gibt.

Be- und Entlastung nach Haushalten

Lindner und Heil: Mehr ist nicht drin

Lindner machte aber deutlich, dass der Staat nicht immer neue Entlastungen für die Bürger finanzieren kann. Angesichts steigender Zinsen würden neue Schulden für das Land schlichtweg zu teuer, so der Finanzminister.

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Auch Bundessozialminister Hubertus Heil (SPD) meinte, der Staat könne nicht alles für alle ausgleichen. Er sagte aber dem "Stern", dass er offen sei, über eine gezielte Entlastung unterer und normaler Einkommen zu reden.

Wie kann den stark Betroffenen geholfen werden?

Christian Woltering, Landesgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes NRW, fordert eine Abkehr vom Gießkannenprinzip zu einer Förderung der besonders betroffenen Geringverdiener: "Da müssen wir den Hebel ansetzen", sagte er im Gespräch mit dem WDR.

"Die Preissteigerungen treffen ja diejenigen besonders hart, die vorher schon nicht genug hatten. In allererster Linie sind das die Hartz-IV-Empfänger, Menschen, die Bafög und Wohngeld erhalten, eben alle, die Sozialleistungen beziehen", so Woltering.

Hartz-IV-Regelsatz muss steigen

Laut Paritätischem Wohlfahrtsverband müsse der aktuelle Regelsatz bei Hartz IV um 50 Prozent angehoben werden: "680 Euro bräuchten die Menschen, um die Preissteigerungen abzufedern." Aber ist es realistisch, dass die Regierung den Regelsatz derart erhöht? "Die Koalitionäre haben vereinbart, Hartz IV in ein Bürgergeld umzuwandeln. Die Anpassung des Regelsatzes gehört da auch dazu. Sonst wäre das ein Etikettenschwindel", sagte Woltering.

Auch die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung ist der Ansicht, dass es nicht ohne eine deutliche Erhöhung des Regelsatzes geht. "Wichtig ist, vor allem zielgerichtet Menschen mit geringen bis hin zu den mittleren Einkommen zu entlasten. Dazu eignen sich ein Vorziehen der Erhöhungen des Hartz-IV-Regelsatzes aus dem kommenden Jahr sowie Einmalzahlungen für Transferempfänger", sagte ein Sprecher der Stiftung dem WDR.

Können Besserverdienende Geringverdiener unterstützen?

Würden Maßnahmen für den Staat in der Summe zu teuer, weil auch die oberen Einkommensschichten davon profitierten, könnte die Politik laut Hans-Böckler-Stiftung überlegen, zum Ausgleich den Solidaritätszuschlag vorübergehend zu erhöhen.

"Damit wäre sichergestellt, dass tatsächlich jene entlastet werden, die jetzt Geld brauchen, während die Last besser auf jene verteilt wird, die zum einen unter den hohen Energie- und Nahrungsmittelpreisen nicht so sehr leiden und die zudem mehr Kapazitäten haben, die Belastungen zu tragen“, so die Stiftung.